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So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden
Autoren: James Morrow
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die Kabine gerannt. Beim Laufen vollführte es mit den Füßen seltsame Kreisbewegungen. Weit spreizte es die Arme.
    »Papi! Papi!« Obwohl Hollys Stimme etwas rauh kratzte – drohte ihr ein Schnupfen? –, sprach sie nach wie vor in den Engelsklängen, die George bei keinem außer seinem Kind je gehört hatte.
    »Holly!«
    Sie fielen sich in die Arme, das Kind lachte und juchzte, George weinte. Holly fühlte sich warm an. George wischte sich am Ärmel die Augen, verheimlichte die Tränen, die ihm darin standen, weil Holly zu jung war, um zu begreifen, wieso jemand vor Glück weinte.
    »Wie schön, dich zu sehen«, sagte George.
    »Wie schön, daß ich dich seh, Papi«, sagte Holly.
    Spurlos war der Krieg nicht an ihr vorübergegangen. Ihr Haar sah wie Garn aus. Weit mehr Lücken klafften in ihrem Lächeln, als sich allein durch die unsauberen Machenschaften des Kariesteufels erklären ließen. Sie hatte eine leicht gebeugte Haltung und hinkte ein wenig. Aber ihre grünen Augen funkelten, ihr Gesichtchen leuchtete, sie zeichnete sich noch durch ihre zauberhafte Stämmigkeit aus, und es war sie, war sie!
    »Boooh, was für ’n Baum«, rief Holly.
    »Gefällt er dir? Die Apfelsinen kann man wirklich essen.«
    »Nein danke. Das is ’n toller Baum. Mit ’m Stern drauf. Das erinnert mich an was.«
    »Was denn?«
    »An die Bäume, die wir immer zum Erntedankfest aufgestellt haben.«
    »Ja, da haben wir Gummifledermäuse drangehängt.«
    »Und kleine Kürbisse. Die waren echt niedlich.«
    »Ich möchte, daß wir heute Weihnachten feiern«, sagte George. »Du hast letztes Jahr kein Weihnachten gehabt. Das war wegen des Kriegs.« Er hatte seit jeher darauf Wert gelegt, in vollständigen, grammatisch korrekten Sätzen mit ihr zu sprechen.
    »Papi, ich muß dir was ganz Trauriges sagen. Es ist wichtig.«
    »Und was?«
    »Es ist wichtig. Mami ist tot.«
    »Du hast recht, das ist sehr traurig. Sie ist im Krieg umgekommen.«
    »Ich weiß«, sagte Holly leicht verstimmt.
    »Du hast ihr Orangensaft zu trinken gegeben, nicht wahr?«
    »Sie ist trotzdem gestorben.«
    »Holly, Holly, wie wunderbar, daß du hier bist. Siehst du die Geschenke da?«
    »Sind sie für mich?«
    »Ja. Sie sind alle für dich.«
    »Die alle? Alle? O Papi, danke, vielen Dank. Ich bin ganz aufgeregt.«
    »Warum fängst du nicht mit dem an?« fragte George, reichte ihr die Gin-Flasche. Holly wickelte die Alufolie ab. »Eine Blumenvase«, sagte George.
    »Können wir nachher eine Blume pflücken gehen?« fragte Holly.
    »Natürlich.«
    Holly stürzte sich auf das große Päckchen und zerriß die Verpackung. »Es steht drauf: Ultra-Super-Küchenausstattung«, erklärte George.
    Holly nahm den Deckel ab, holte die Teller, Tassen, Soßenschüsseln, Töpfe, Pfannen, Kessel und Terrinen heraus. »O Papi, das gefällt mir, das find ich toll. Spielst du Kochen mit mir?«
    »Ich glaube, erst mal sollten wir alles auspacken.«
    »Spielst du danach mit mir?«
    »Na klar.« Gespannt gab er ihr das Päckchen mit der Stoffpuppe. »Schau mal da hinein.« Holly zupfte an der Alufolie. »Ich weiß, daß du dir eine Mary-Merlin-Puppe gewünscht hast«, sagte er. »Aber ich konnte keine mehr kriegen.«
    »Der Weihnachtsmann auch nicht?«
    »In den Geschäften hatten sie keine mehr.«
    »Ist ja egal.« Holly küßte die Puppe und streichelte ihr Haar. »Die mag ich auch sehr. Sie heißt Jennifer.«
    Sie legte Jennifer in einer Bratpfanne der Ultra-Super-Küchenausstattung schlafen und breitete eine Decke aus Aluminiumfolie über sie. Als nächstes händigte George seiner Tochter den weißen Alabasterraben aus. Sie taufte ihn Flörchen und bettete ihn neben Jennifer. Bald schliefen Jennifer und der Rabe fest.
    »Du mußt ganz still sein, Papi.«
    »Ja sicher.«
    »Das nächste Päckchen suchst du dir selber raus.«
    »Klar.«
    Holly kramte den Zylinder aus dem Stapel und packte ihn aus. Ohne sich über ihn zu äußern, setzte sie ihn auf und zeigte eines ihrer gelegentlichen, mit Zahnlücken durchsiebtes Lächeln. Die silberne Rolle weckte ihre Beachtung. Fetzchen Alufolie flogen durch die Luft. »Ach, ein Clown«, rief sie, während sie das Poster entrollte. »Der sieht aber lustig aus. Ich will ihn aufhängen.« Sie klebte das Poster an ein Schott.
    »Und außerdem bekommst du das hier«, sagte George. Freudig zerrupfte Holly die Folie. »Da steht eine Geschichte drin, die ich dir mal erzählt habe«, erklärte George ihr. »Ein Häschen möchte gerne Fahrradfahren lernen,
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