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Small World (German Edition)

Small World (German Edition)

Titel: Small World (German Edition)
Autoren: Martin Suter
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Schwester ein, ihr zu helfen.
    Anna war während ihrer Ausbildung zweimal bei einem Schwangerschaftsabbruch dabeigewesen. Sie traute sich zu, den Eingriff selbst vorzunehmen. Sie schmuggelte die Instrumente, die nach ihrer Erinnerung dazu gebraucht wurden, aus der Klinik. Auf der Federkernmatratze ihres Mansardenzimmers machte sie sich an der mit einer halben Flasche Pflümli anästhesierten Elvira zu schaffen.
    Es wurde ein Desaster. Elvira verlor eine Unmenge Blut und hätte nicht überlebt, wenn Anna nicht im letzten Moment einen Krankenwagen bestellt hätte.
    Elvira Berg verbrachte vier Wochen im Spital. Als man ihr sagte, sie würde nie mehr Kinder bekommen können, seufzte sie: »Gott sei Dank!«
    Anna Lang verlor ihre Ausbildungsstelle und wurde zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt.
    Weihnachten 1935 fanden sich die beiden Halbschwestern im kleinen zugigen Haus in Basadingen wieder. Sie wußten nicht, was trostloser aussah: ihre Gegenwart oder ihre Zukunft.
    Doch kurz nach Neujahr wendete sich das Schicksal. Elvira meldete sich auf das Inserat einer Stellenvermittlung, die ein Kindermädchen für einen Witwer in »allerbesten Verhältnissen« suchte. Sie kam in die engere Wahl und durfte sich bei Wilhelm Koch, einem reichen Fabrikanten vorstellen. Als sie die Stelle bekam, machte sie sich keine Illusionen darüber, daß sie das nicht allein dem enthusiastischen Arbeitszeugnis zu verdanken hatte, das ihr »monsieur« ausgestellt hatte.
    Thomas Koch war vier, ein einfaches, ruhiges Kind, das ihr nicht viel abverlangte. Ganz im Gegensatz zu seinem Vater. Aber diesmal diktierte Elvira die Bedingungen. Kein Jahr später war sie Wilhelm Kochs Frau. Und kurz darauf zog Anna Lang als Dienstmädchen ins Personalhaus. Sie brachte den kleinen Konrad mit, der immer noch als Annas Sohn galt.
    Lange hatte Elvira tief in Gedanken im Fond des Daimlers gesessen. Die Scheiben hatten sich beschlagen, und der Regen tropfte immer noch in unregelmäßigem Takt aufs Dach. Als sie Anstalten machte, die Tür zu öffnen, stieg Schöller aus, spannte einen Schirm auf und half ihr aus dem Wagen.
    »Lassen Sie mich einen Augenblick allein«, bat sie. Schöller reichte ihr den Schirm und blickte der zerbrechlichen Gestalt mit der großen Handtasche nach, die sich auf dem aufgeweichten Waldweg unsicher entfernte und schließlich in der Biegung hinter einem Dickicht junger Tannen verschwand. Er setzte sich wieder hinters Steuer und wartete.
    Zwanzig Minuten später, gerade als er sich entschlossen hatte, ihr entgegenzufahren, und schon den Motor startete, tauchte sie wieder auf. Er fuhr langsam die paar Meter auf sie zu und half ihr in den Wagen. Sie sah aus, als hätte sie sich frisch zurechtgemacht. Nur ihre Pumps waren in einem erbärmlichen Zustand.
    Als er darüber eine Bemerkung machte, lächelte sie und sagte: »Fahr mich in die Sonne!«
    Schöller fuhr vorschriftsmäßig hundertdreißig. Es war nicht ungewöhnlich, daß Elvira nicht sprach. Nur daß sie einnickte, war neu.
    Im Gotthardtunnel, knapp über zwei Stunden nachdem sie Basadingen in Richtung Süden verlassen hatten, bemerkte er im Rückspiegel, wie ihr immer wieder die Augen zufielen. »Wecken Sie mich in Rom«, sagte sie, als sie spürte, daß er sie beobachtete. Dann schlief sie ein.
    Auch als er bei der Tunnelausfahrt den Wagen etwas brüsk abbremsen mußte, weil er von dem starken Regen auf der Südseite überrascht wurde, erwachte sie nicht aus ihrem sonst so leichten Schlaf.
    Der Scheibenwischer kämpfte vergeblich gegen die Flut aus Regen und Spritzwasser, als er in einer dichten Kolonne fast im Schrittempo durch die Leventina fuhr. Elvira Senn schlief immer noch.
    Kurz nach Biasca fiel ihm auf, wie bleich sie geworden war. Ihr Mund war leicht geöffnet.
    »Frau Senn«, rief er leise. Dann etwas lauter: »Frau Senn!« Und schließlich ziemlich laut: »Elvira!«
    Sie reagierte nicht. Bei der nächsten Raststelle bremste er und bog ein. Etwas überraschend für den folgenden Wagen, dessen langgezogenes Hupen noch nachklang, als Schöller schon im Regen stand und die Tür zum Fond aufriß.
    Der Schweiß hatte Elviras Make-up aufgelöst. Sie war ohne Bewußtsein, aber Schöller spürte ihren Puls. Er schüttelte sie, zuerst behutsam, dann kräftig. Als sie kein Lebenszeichen von sich gab, setzte er sich wieder ans Steuer und fuhr los. Diesmal ohne auf die Geschwindigkeitsbegrenzungen zu achten. Kurz hinter Claro hatte er endlich die Auskunft erreicht, die
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