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Small World (German Edition)

Small World (German Edition)

Titel: Small World (German Edition)
Autoren: Martin Suter
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vierzehnjähriges Mädchen, blond, mit einem runden, hübschen Kindergesicht. Sie trug einen wadenlangen Rock, Wollstrümpfe, halbhohe Schnürstiefel und eine Strickjacke. Ihre Hände steckten in einem Muff aus abgewetztem Kaninchenfell.
    Das Mädchen wohnte mit ihren Eltern und ihrer Halbschwester in einem gelb geschindelten Haus am Dorfrand von Basadingen. Die Mutter nähte in Heimarbeit Achselpolster für eine Kleiderfabrik in St. Gallen. Der Vater war Sägereiarbeiter. Einer der ganz wenigen mit zehn Fingern, wie er gern betonte.
    Der Mann war ein Arbeitskollege des Vaters. Er ging bei ihnen ein und aus, und niemand hatte etwas dagegen, denn er war ein Witzbold, und sie hatten nicht viel zu lachen. An seiner rechten Hand befanden sich nur noch Daumen und Zeigefinger. Die andern drei hatte ihm die Bandsäge genommen. Als es passiert war, hatte ihm ein bleicher Lehrling die drei Finger gebracht. »Gib sie dem Hund«, hätte er gesagt; so ging die Anekdote.
    Diese rechte Hand hatte etwas Obszönes, was das Mädchen faszinierte. Einmal, als er bemerkte, wie sie die Finger anstarrte, sagte er: »Damit kann ich alles machen, wozu man eine rechte Hand braucht.« Sie wurde rot. Von da an richtete er es immer wieder ein, daß er mit ihr allein war. Dann brachte er sie in Verlegenheit mit allerlei Anzüglichkeiten.
    Sie war ein neugieriges Mädchen. Es brauchte nicht viel, um sie zu überreden, daß sie sich mit ihm an einem Sonntag nach der Kirche im Geißwald traf. Er wollte ihr etwas zeigen, das sie noch nie gesehen hätte. Sie war nicht so naiv, zu glauben, es handele sich dabei um einen seltenen Pilz.
    Aber jetzt, als er sie in einen Holzweg zog, der vom Waldsträßchen wegführte, hatte sie Herzklopfen. Und als sie zu einem mit frischem Sägemehl gefleckten Holzeinschlag kamen und er sie aufforderte, sich neben ihn auf einen Tannenstamm zu setzen, sagte sie: »Ich will lieber wieder zurück.«
    Aber sie wehrte sich nicht, als er begann, sie mit seiner schwieligen Krabbenzange abzutasten. Sie hielt auch still, als er über sie herfiel. Schloß die Augen und wartete, bis es vorbei war.
    Als sie ihre Kleider in Ordnung gebracht und aufgehört hatte zu weinen, begleitete er sie bis zum Waldrand. Dort schickte er sie nach Hause. »Das erzählst du niemandem«, sagte er zum hundertsten Mal. Es wäre nicht nötig gewesen. Elvira Berg dachte nicht im Traum daran, es einer Menschenseele zu erzählen.
    Ihre Periode hatte erst vor kurzem eingesetzt. Als sie jetzt wieder ausblieb, machte sie sich darüber keine Gedanken. Im Mai begann sie unter Schwindelanfällen zu leiden. Dann unter Übelkeit. Im Juni brachte sie ihre Mutter nach Konstanz zu einem Arzt, den sie aus der Zeit ihrer ersten Ehe kannte. Elvira war im vierten Monat schwanger.
    Sie kam in ein Heim im Kanton Freiburg, das von Ordensschwestern geleitet wurde. Man besaß dort Erfahrung mit solchen Fällen. Im November brachte Elvira einen gesunden Jungen zur Welt. Die Schwestern tauften ihn auf den Namen Konrad. Nach dem heiligen Konrad, der im neunten Jahrhundert Bischof von Konstanz war.
    Im Januar 1933 begann Elvira ihr Welschlandjahr. Sie kam zu einer Familie in Lausanne, der sie für ein Taschengeld den Haushalt führte. Konrad blieb in der Obhut von Elviras Mutter. Er wurde als das uneheliche Kind von Anna, Elviras älterer Halbschwester, ausgegeben. Der Dorfklatsch von Basadingen kannte keine Gnade.
    Anna stammte aus Mutters erster Ehe mit einem Friseur aus Konstanz, der im Juli 1918 an der Marne gefallen war. Sie hieß Lang, wie ihr Vater, war neunzehn und besuchte die Schwesternschule in Zürich. Erst an Heiligabend 1933, ihrem ersten Besuch in Basadingen in diesem Jahr, erfuhr sie, daß der inzwischen über einjährige Konrad im Dorf als ihr uneheliches Kind galt. Sie reiste noch in der gleichen Nacht ab. Aber ihre Drohung, die ganze Welt über den wahren Sachverhalt aufzuklären, machte sie nicht wahr.
    Zwei Jahre später war Elvira wieder schwanger. Diesmal von »monsieur«, dem Vater der Familie, bei der sie arbeitete. Sie kannte nun die Symptome und war fest entschlossen, es nicht so weit kommen zu lassen wie das erste Mal. Sie fuhr zu ihrer Schwester, die sich im letzten Jahr ihrer Ausbildung zur Krankenschwester befand. Als Anna klar wurde, worum Elvira sie bat, lehnte sie empört ab. Aber Elvira hatte in den letzten Jahren ihr Talent entdeckt und entwickelt, zu bekommen, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Am zweiten Tag ihres Besuchs willigte ihre
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