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Skalpell Nr. 5

Skalpell Nr. 5

Titel: Skalpell Nr. 5
Autoren: Michael Baden , Linda Kenney
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Kostüm betonte die Farbe ihrer stahlblauen Augen, und der V-Ausschnitt der passenden Seidenbluse war tief genug, um den männlichen Geschworenen ein kleines Glücksgefühl zu bescheren. Gar nicht schlecht, dachte sie, während sie sich prüfend im Spiegel betrachtete. Und der Ein-Ohrring-Look kann noch als modisch ausgefallen durchgehen.
    Mit ihren neunundzwanzig Jahren wusste sie, dass manche Kollegen meinten, sie trüge Stilettos und knallige Farben, um aufzufallen – aber das stimmte nicht ganz. Ihre Garderobe war eine Art Rüstung, ein Talisman. Sie verkündete der Welt, dass Manny eine Frau war, die kühne Entscheidungen traf, selbstbewusst war und sich in ihrer Haut wohl fühlte. Kleidung zeigt nicht nur, wer du bist, sie zeigt auch, wer du sein möchtest. Als sie Prozessanwältin wurde, tat ihr diese Überzeugung gute Dienste. Sie wusste instinktiv, dass Geschworene eher einer Anwältin Glauben schenkten, die gut gekleidet und mit schicken Accessoires auftrat, als einer Frau, die versuchte, möglichst männlich zu wirken, mit Krawatte, langweiligen Halbschuhen und formlosem Kostüm. Ihre Eltern hatten ihr beigebracht, immer die besten Klamotten zu kaufen, die sie sich leisten konnte, selbst wenn dann zum Abendessen nur noch Bohnensu­ppe drin war. Auch heute noch gab es abends häufig Suppe, aber sie aß sie, wenn sie allein war, in einem Bademantel von Ralph Lauren. Ihre Familie war stolz auf sie. Und shoppen machte ihr Spaß, vor allem die Jagd auf Schnäppchen. Das war ihr größtes Hobby.
    Sie musterte sich ein letztes Mal im Spiegel, registrierte ihre Schwachpunkte – dank ihres gesunden Appetits und ihrer Vorliebe für Wein sowie ihrer Körpergröße von eins zweiundsiebzig trug sie Kleidergröße 40 statt der 38, von der sie träumte; außerdem hatte sie auf dem Nasenrücken eine kleine Unebenheit, ein Erbe ihres Vaters, für deren operative Entfernung ihr bis jetzt der Mut gefehlt hatte –, war aber doch einigermaßen zufrieden. Ihre Wangenknochen waren schön – die hatte sie von ihrer Mutter. Das Feuer in ihren Augen, die Kampfeslust, stammte nur von ihr.
    Wer sie nicht kannte und im Gerichtssaal sah, konnte sie leicht für eine Mandantin halten – noch so eine Schickimickitussi –, eine Lady, die täglich eine Verabredung zum Lunch hatte. Ein gegnerischer Anwalt behandelte sie vielleicht wie eine Sexpuppe, die mit einem ihrer Seniorpartner ins Bett ging – aber nur, bis sie ihr Beweismaterial vortrug.
    Manny hatte innen in ihrem Blazer ein kleines rotes Stück Stoff als Glücksbringer festgesteckt, wie sie es von ihrer Großmutter gelernt hatte, nur für alle Fälle. Sie wollte kein Risiko eingehen; niemand würde ihr den bösen Blick zuwerfen, nicht heute. Sie musste gewinnen.
    Sie betrat den Gerichtssaal – einen beeindruckenden Raum mit roten Velourssesseln für die Geschworenen und blauem Teppichboden – und nahm ihren Platz an dem wuchtigen Eichen­tisch der klägerischen Partei ein. Zwei Minuten später war die Sitzung eröffnet.

    »Die Verteidigung ruft Dr. Jacob Rosen in den Zeugenstand.«
    Jake Rosen. Vielleicht war sie ja seinetwegen so nervös. Sie hatte ihn im letzten März kennengelernt, als sie für den Fall Jose Terrell eine zweite Obduktion gebraucht hatte und ihn per Hubschrauber zu einem Landeplatz in New Jersey ganz in der Nähe der Leichenhalle hatte fliegen lassen – aus eigener Tasche bezahlt! –, damit er bestätigen konnte, dass die Polizeikugeln, die Terrell getötet hatten, in dem Moment abgefeuert worden waren, als er schon die Hände erhoben hatte, um sich zu ergeben.
    Rosen war aus dem Hubschrauber gehüpft wie ein modisch zurückgebliebener Frankenstein, die Haare zerzaust wie in dem Klischee vom wahnsinnigen Wissenschaftler. Sein Haar war lang und voll, braun mit ein paar grauen Strähnen durchsetzt, und sie hatte den lächerlichen Impuls gehabt, es ihm zu kämmen, nur um es unter den Fingern zu spüren. Er trug einen zusammengelegten Regenmantel über einer abgegriffenen schwarzen Aktentasche, die so vollgestopft mit Unterlagen war, dass er den Verschluss nicht mehr zubekam, aber er war unge­heuer professionell. Seine Untersuchungsergebnisse waren der­art überzeugend, dass sich der Detective, der die Schüsse abge­ge­ben hatte, auf einen Vergleich einließ, die Stadt der Mutter des Jungen Schmerzensgeld zahlte und der Fall nie vor Gericht kam.
    Und jetzt, sechs Monate später, war Rosen hier und sagte für die Verteidigung aus. Manny wusste, dass
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