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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn
Autoren: Heinz G. Konsalik
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galt als die schönste der Welt, und das stimmte sogar, denn welches Land konnte es sich leisten, jede U-Bahn-Station rundum mit einem anderen Marmor auszukleiden? Und die Tragflügelboote auf der Moskwa oder die großen viermotorigen Flugzeuge, die draußen auf dem riesigen Flugplatz Scheremetjewo inmitten der Wälder landeten, die langen Busse, die von Moskau nach allen Himmelsrichtungen fuhren – das war vielleicht alles besser als hier in Deutschland. Aber der Zug, den sie einmal gesehen hatte, bei Bebra, als sie umgekoppelt worden waren: der Speisewagen mit weißgekleideten Kellnern, der Duft von gebratenem Fleisch, der zu ihnen ins Abteil geweht war – das hatte ihre Neugier gereizt.
    Statt dessen kam Kyrill Semjonowitsch, der jetzt wieder Asgard hieß, von der Besprechung zurück und sagte: »Ihr Lieben, wir fahren mit einem Auto nach Köln. Wir sind eingeladen worden.«
    »Von wem?« fragte Lyra Pawlowna zurückhaltend. »Uns kennt doch keiner.«
    »Ein Offizier ist's, mein Täubchen.«
    »Es gibt also keine Ruhe?« Ihre schwarzen Augen, die er immer besonders liebte und bewunderte, wenn sie vor Erregung leuchteten, als brächen Feuer aus der Tiefe hervor, bekamen einen traurigen Schimmer. »Was wollten sie von dir?«
    »Sie interessieren sich für Wildgänse.«
    »Was hast du geantwortet, Papuschka?«
    »Ich habe dem Herrn einen vogelkundlichen Vortrag gehalten. Mit dem Erfolg, daß wir in das beste Hotel von Köln einquartiert und von einer Vereinigung ehemaliger Offiziere eingeladen werden. Wir werden die ersten Wochen als Staatsgäste leben. Sie nennen es Kameradschaft, aber in Wirklichkeit wollen sie ihren Juckreiz loswerden, der sie seit vierunddreißig Jahren quält: Was ist Wildgänse?!«
    »Du sagst es ihnen?«
    »Nein!«
    »Sie werden sehr böse darüber sein.«
    »Warten wir es ab.«
    »Nach Rußland können wir nicht mehr zurück, Kyrill Semjonowitsch.«
    »Wir werden ein Stück Land finden, auf dem die Kuehenbergs in Ruhe leben können.« Er zog Lyra an sich und streichelte über ihr leicht gewelltes Haar. Sie ist nie bei einem Friseur gewesen, fiel ihm plötzlich ein. Früher, als ihre Mutter noch lebte, schnitt diese allen die Haare. Einmal im Monat war Barbiertag. Da hockte die ganze Familie Sharenkow in der Küche – später auch die Familie Boranow –, und Elisawetha begann ihren Kampf gegen den Haarwuchs. Zuerst kam Oleg, der Familienpatriarch, an die Reihe, saß auf dem Küchenstuhl, ein Handtuch um den Hals, saß da wie erstarrt, den Kopf kerzengerade gereckt, und Elisawetha schnippelte mit einer Schere und einem Rasiermesser, das sie ab und zu an einem Lederriemen wetzte, die überflüssigen Locken ab. War die Familie gestutzt, übernahm die älteste Tochter Lyra das Werkzeug und verschönte ihre Mutter, und das änderte sich nicht in all den Jahren, wurde auch bei den Boranows fortgeführt. Tamara erwies sich als so geschickt und begabt, daß sie sogar eine Lehre bei einem Friseur machte und zu Hause einen Privatsalon gründete, nur für die Nachbarschaft, und ohne ein Rubelchen zu nehmen. Denn das wäre strafbar gewesen – aber wenn jemand ein Geschenk brachte, konnte man es nicht ablehnen. Wer schenkt, soll doch nicht beleidigt werden!
    »Hast du Angst?« fragte Kuehenberg jetzt. Lyra Pawlowna nickte. Wieder Offiziere, dachte sie. Achtundzwanzig Jahre lang die Angst, man könne entdecken, wer Kyrill Semjonowitsch wirklich ist. Dann sagte er es selbst, und die Torturen begannen. Verhöre, Drohungen, Haft in den Kellern des KGB und immer wieder Fragen und Fragen: ein kleines Heer von Offizieren, das die Boranows belagerte. Ein paarmal kam sogar ein General aus dem Kreml, der mit ihnen in einer Wolgalimousine herumfuhr und zu Kyrill sagte: »Nun zeigen Sie mir mal in allen Einzelheiten, wie Sie das damals organisiert haben! Erinnern Sie sich noch an Einzelheiten? Kyrill Semjonowitsch, das ist ja alles vergessen und vergeben … es geht jetzt nur noch um die Vervollständigung der Historie. Alles bleibt im Kremlarchiv unter Verschluß! Sie haben nichts zu befürchten. Es war ja Krieg. Wir alle haben für unser Vaterland das Beste getan!« Aber dann brachte man sie doch noch nach Sibirien, an den Ob, in ein Arbeitslager, das gleichzeitig Umschulungsstätte sein sollte. Aus einem ideologisch schwankenden Russen einen guten leninistischen Sowjetbürger zu machen – das war das Ziel. Aber Kyrill Semjonowitsch fiel nicht in die Knie. Mit jedem Jahr an den einsamen Ufern des Ob wurde
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