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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Verhöre, Verhaftungen, Schläge und Verurteilungen, die Jahre in Sibirien, die Begnadigung und wieder die Anträge, neue Drohungen, neue Verhöre, bis man sagte: »Gut denn! Sie können nach Deutschland!« Und heute Friedland. Die erste Station eines neuen Lebens. Wieder eine Baracke und hinter dem Lagertor das weite Unbekannte, das es zu erobern gilt. Eine völlig fremde Welt, auch wenn sie Heimat heißt. Lyranja … was habe ich dir in vierunddreißig Jahren zugemutet …
    Er griff nach ihr unter der Dusche, zog sie an sich und küßte sie. Ihr glatter nasser Körper platschte gegen seinen, das Wasser sprühte über sie und rann in die Dielenritzen außerhalb der Brausetasse.
    »Kyrilluschka, was tust du?« fragte sie und hielt sich an seinem nackten Leib fest, als habe sie Angst auszugleiten. »Verrückt bist du! Wenn Tamara hereinkommt! So ein alter Bär wie du! Laß das, sag' ich! Wir setzen das ganze Zimmer unter Wasser. Nachher mußt du die Reparatur bezahlen! Kyrill – wir sind doch keine zwanzig mehr.«
    Sie lachte und kicherte, genoß seine handgreiflichen Zärtlichkeiten, seufzte wie in den besten Jahren, als er ihre Brüste liebkoste und die starr stehenden Warzen zwischen seine Zähne nahm, umklammerte ihn dann, als er sie gegen die Duschwand drängte, und preßte die Beine zusammen. »Du verrückter, verrückter Bär!« stammelte sie. »Was soll das?! Leg dich hin wie ein anständiger Mensch!« Sie drängte ihn weg, lachte mit einem samtenen Unterton, warf ein Handtuch über seine erregte Männlichkeit und rannte wassertriefend zur Tür, schloß sie ab und rubbelte sich die Nässe von der Haut. Erst als sie trocken war, legte sie sich aufs Bett, auf die ausgebreitete Decke, und blickte ihren Mann erwartungsvoll an.
    »Es ist wie vor vielen, vielen Jahren«, sagte sie leise und mit einem Schluchzen in der Stimme, als er sich über sie beugte. »Bist du glücklich, in Deutschland zu sein?«
    »Ich liebe dich, Lyraschka. Ich liebe dich von Jahr zu Jahr mehr. Ich …« Er vergrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge und schwieg. Das Gefühl, in ihr zu sein, war so stark wie vor vierunddreißig Jahren, als er Lyra Pawlowna zum erstenmal besessen hatte, hinter einem Grashügel draußen in den Leninbergen, am Rande Moskaus, über ihnen ein unendlich blauer Himmel, der zu singen begann, als er ihre warme Haut an seiner Haut spürte.
    Ich wäre in Rußland geblieben, wenn sie sich geweigert hätte, dachte er und spürte ihre Lippen an seiner Schulter und an seinem Hals. Aber sie hat sich nie geweigert. Alles, was ich tat, war in ihren Augen gut getan. Nie hat sie sich beklagt, nie Vorwürfe gegen mich erhoben, nie Widerstand geleistet, auch wenn vieles, was ich unternahm, in ihren Augen falsch war, denn wer, zum Teufel, tut nur Vollkommenes?! Aber sie hat es nie gezeigt! Sie war immer eine Frau, die ihren Mann bewunderte, selbst wenn er einmal schwach und ratlos war.
    Sie duschten sich noch einmal, schlossen die Tür wieder auf und legten sich in ihre Betten. Es war still um sie herum, viel stiller als in ihrem Moskauer Häuschen, wo immer ein Nachbar etwas zum Feiern hatte. Viel stiller auch als im Lager Kolposchewa, wo man nachts in der Baracke Weinen oder Jammern hörte, gestammelte Gebete und heiseres Hecheln, Schnarchen und geknurrte Flüche. Es war eine Lautlosigkeit, die bedrückte. Ein Vakuum an Tönen, das an die Nerven ging. Schlafen wollte man, müde war man wie ein gehetzter Hund, aber man konnte nicht schlafen, weil die Stille zu laut war.
    »Die erste Nacht in Deutschland!« sagte Lyra Pawlowna. Sie lag allein, die Betten waren auseinandergestellt. »Es ist unheimlich, Kyrill. Kein Ton, nur unser Atem.«
    »Das ändert sich, wenn wir aus dem Lager sind. Die Welt da draußen ist laut.«
    »Lauter als in Rußland?«
    »Viel lauter. Rußland ist dagegen still wie eine leere Kirche.«
    »Woher weißt du das?«
    »Ich denke es mir. Allein der Verkehr auf den Straßen!«
    »Werden wir in einer großen Stadt wohnen, Ljubimij (Liebling)?«
    »Ich weiß es nicht!«
    »Du hast in den Anträgen Köln angegeben. Ist Köln groß?«
    »Sehr groß.«
    »Größer als Moskau?«
    »Viel, viel kleiner …«
    »Wieso ist es dann groß?«
    »Für deutsche Begriffe ist Köln groß.«
    »Dann ist in Deutschland alles kleiner als in Rußland?«
    Ihre Logik war überwältigend. Er dachte darüber nach und lächelte in die Dunkelheit. »Ja«, sagte er. »Vieles ist in Deutschland kleiner.«
    »Und warum ist Deutschland dann so
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