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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn
Autoren: Heinz G. Konsalik
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…«, sagte Lyra Pawlowna nach einer ganzen Zeit. Das Schweigen ihres Mannes kam ihr unheimlich vor. Hinter seiner Schulter blinzelte sie Tamara zu. Das Mädchen nickte und zeigte auf ein Auto, das eine kurze Strecke neben dem Zug herfuhr, bis die Straße in einer Senke verschwand.
    »Ein gelbes Auto! Sieh nur. Ganz gelb!«
    Es war ein Postwagen. Kuehenberg wischte sich über die Augen. »Das hat sich geändert. Die Postfarbe war damals rot …«
    Am Bahnhof von Friedland standen Omnibusse.
    Zwei Rote-Kreuz-Schwestern, ein Sanitäter, ein Polizist und ein Zivilist, der sich als Vertreter der Lagerleitung vorstellte, begleiteten den kleinen Trupp mit seinen Koffern und Säcken zu den Bussen und fuhren mit ihm in die steinerne Barackenstadt. Auf dem Platz vor der Verwaltung hielten sie an. Der Sanitäter, ein junger, fröhlicher Mensch, der neben den Kuehenbergs saß, sagte laut: »Nun sind wir da! Ihr habt's geschafft! Willkommen bei uns!«
    Dann standen sie draußen in der Sonne, die genauso heiß war wie in den Vorstädten Moskaus, nur roch die Luft nicht so köstlich nach Blumen und Gemüsen, Gewürzen und Obst wie dort, wenn die Sonne über dem Gärtchen hing und Kyrill Semjonowitsch mit einem Schlauch herumspazierte und die Pflänzchen mit Wasser besprühte.
    »Baracken«, sagte Lyra Pawlowna. Jetzt sprach sie deutsch, weil sie ja in Deutschland waren. Ein hartes Deutsch mit einem rollenden R. Das Wort Baracken klang, als breche man trockenes Holz mittendurch. »Wo ist Freiheit? Baracken wie in Kolposchewa.«
    Kolposchewa am Ob. Das Straf- und Arbeitslager in Sibirien. Der berüchtigte Narym-Arbeitsbezirk. Eine flache Stadt der lebendigen Toten. Wer nach Kolposchewa kam, war vergessen.
    Kuehenberg holte sein Gepäck aus dem Bus. Die Koffer, drei Kartons und einen Jutesack. Er baute alles vor den Frauen auf, dann nahm er Lyras Gesicht zwischen seine Hände. »Ein paar Tage nur, Lyranja«, sagte er. Späte Zärtlichkeit überkam ihn; er küßte ihre Augen und streichelte ihre Wangen. »Wie hat Konopjow gesagt: Wir sind nur noch eine Null! – Hier wird man eine Zahl aus uns machen! Kennen wir nicht die Verwaltungen? Ein Übergang, Lyranja. Vor allem müssen wir erklären, wohin wir wollen. Es sind bestimmt nur ein paar Tage.«
    Ein höherer Beamter der Lagerverwaltung begrüßte sie mit einer kurzen Ansprache und betonte, daß sie nun endlich in der Heimat seien. Ein schwerer Weg liege zurück, aber ein schwerer Weg liege auch noch vor ihnen, denn obwohl sie Deutsche seien, kämen sie ja in ein unbekanntes Land, das ganz anders sei als Rußland. Doch das solle keinen schrecken – man würde jede Hilfe zum Eingewöhnen anbieten.
    Dann erfolgte die Wohnraumverteilung. Die Kuehenbergs bekamen zwei Zimmer mit einer Dusche. Das große Lager war fast leer, die meisten Baracken waren verschlossen. Die Zeit der großen Rückwandererströme war vorbei. Friedland, der Freudenschrei zurückkommender Kriegsgefangener, war wie zu einem Denkmal geworden. Das Hereintröpfeln der Aussiedler spürte man kaum.
    In der Gemeinschaftsküche holten sie ihr Abendessen – Nudeln mit Gulasch, zum Nachtisch einen Vanillepudding mit Himbeersaft. Dann bummelten sie satt durch die verlassene Barackenstadt, standen am Glockenturm mit der berühmten Friedland-Glocke und saßen im Abendrot auf einer weißlackierten Bank vor Blumenbeeten, mit denen man den Hauptplatz verschönert hatte. Als die Abendwolken dunkler wurden und überall im Lager die Lichter aufflammten, gingen sie in ihre Zimmer zurück und packten den ersten Koffer aus. Er enthielt ihre Kleidung und die Wäsche. Zuerst duschte Tamara und zog ihr kurzes Nachthemd an, dann stellte sich Kuehenberg unter die Wasserstrahlen, seifte sich ab und wartete, bis Lyra ihn ablöste. Sie hat noch immer einen schönen Körper, dachte er. Wahrhaftig, sie kann es mit den Jungen noch aufnehmen. Eine straffe, glatte Haut, feste Brüste und nirgendwo ein Gramm unnötiges Fett. Vierunddreißig Jahre sind wir verheiratet. Gott, welch eine Zeit! Und ich liebe sie wie am ersten Tag. Nicht eine Sekunde mit ihr habe ich bereut – aber ob sie immer mit mir glücklich gewesen ist? Was hat sie alles mit mir erlebt: die junge Liebe, die Heirat, die entsetzliche Wahrheit, daß ich ein Deutscher bin, Tamaras schwere Geburt, bei der sie bald verblutet wäre, die ständige Angst vor Entdeckung, die Jahre der Zufriedenheit, dann den Kampf gegen meine Sehnsucht, wieder nach Deutschland zu gehen, die Anträge,
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