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Sie kamen bis Konstantinopel

Sie kamen bis Konstantinopel

Titel: Sie kamen bis Konstantinopel
Autoren: Frank S Becker
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dann war er bei dem Vogel. Langsam bückte er sich, immer die Hände am Felsen, hob ihn auf und hielt ihn triumphierend hoch. Ich klatschte Beifall und er strahlte. Wie ein kleiner Junge …«
    Patricius wandte sich um und sah Pelagia an. »Das strahlende Gesicht werde ich nie vergessen. Im nächsten Augenblick löste sich ein Stein unter seinem Fuß und polterte in die Tiefe. Ich sehe noch seine Hände, die sich an eine Felskante krallten, ohne den Vogel loszulassen. Aber die Kante war glitschig von Möwenkot, und so rutschen seine Finger ab. Nach und nach, Daumenbreite um Daumenbreite. Dann muss er gemerkt haben, dass es zu spät war. Er ließ los und schrie. Ein hilfloser Schrei des Entsetzens, während sein Körper nach hinten kippte. Zuerst langsam, dann immer schneller stürzte er hinab, überschlug sich mehrfach, bis er inmitten der weißen Gischt aufprallte. Auch ich schrie und heulte.« Er stockte kurz. »Ich habe nie wieder etwas von ihm gesehen. Wahrscheinlich war er sofort tot. Stundenlang starrte ich über die Klippe, bis ich am Ende den Korb nahm und nach Hause schlich. Da hatte ich schon keine Tränen mehr.« Seine Stimme stockte, so dass Pelagia stumm ihre Hand auf seinen Arm legte.
    »Und dann?«
    »Meine Mutter schlug wie eine Wahnsinnige auf mich ein und schrie, alles sei meine Schuld. Ich hätte meinen Vater auf dem Gewissen. Jetzt müssten wir verhungern, und er würde in die Hölle kommen, weil er ohne die letzte Ölung gestorben sei. Zuletzt verfiel sie auf den Gedanken, mich in ein Kloster zu stecken. Dort könnte ich für meine Sünde büßen und durch fromme Werke seine Seele aus der Hölle holen.« Traurig lächelte er sie an. »Jetzt kennst du meine Geschichte.«
    »Ich verstehe. Und so hat man einem sechsjährigen Jungen eingeredet, am Tode seines Vaters schuld zu sein.«
    »Aber ich bin es doch!«
    »Nein, das bist du nicht. Überlege doch einmal: Wenn du spüren konntest, dass dein Vater sterben würde, dann war sein Schicksal vorherbestimmt! Dann hing es nicht von deiner Handlung ab. Du warst noch ein kleines Kind, allenfalls ein Werkzeug des Schicksals. Auf keinen Fall war es deine Schuld. Und deshalb ist es falsch, dass du mit deinem Leben dafür büßen sollst.«
    Patricius schaute sie ungläubig an, schüttelte langsam den Kopf, strich sich über die Stirne. »Mein ganzes bisheriges Leben falsch? Ich glaube nicht, dass du es dir so einfach machen kannst.«
    Pelagia spürte, wie Zorn in ihr aufstieg. »Dann mach es dir halt schwer«, fauchte sie. »Wirf dein Leben weiter weg. Bis nichts mehr davon übrig ist. Ich gehe jetzt nach Hause!«
    Sie drehte sich abrupt um und ging mit raschen Schritten, während Patricius ihr stumm folgte.
    An ihrer Haustüre angekommen, räusperte er sich. »Du hast doch vorhin den Namen deines … nun, deines Herrn in Damaskus erwähnt. Hieß er nicht Daud Ibn Hassan?«
    »Ja und? Was geht dich das an?«, fragte sie unwirsch.
    »Nun, gestern sind einige christliche Seeleute, die man zum Flottendienst gepresst hatte, von einem Sarazenenschiff gesprungen, das die Kette rammen wollte. Sie wurden aus dem Wasser gefischt und haben uns manches über die Flotte erzählt. Der Admiral ist ein gewisser Busr Ibn Abi Artat.«
    »Der Name sagt mir nichts.«
    »Warte. Sie haben auch von einem Stellvertreter berichtet, der sehr fähig, aber auch ein fanatischer Christenhasser sein soll. Sein Name ist Daud Ibn Hassan.«
    Pelagia erstarrte, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. »Und wenn schon? Er ist sicher nicht meinetwegen hier. Gute Nacht!«
    Doch im Haus merkte sie, dass sie zitterte.
    Da tauchte auf einmal die schlaftrunkene Irene auf und reichte ihr ein versiegeltes Schreiben. »Das wurde heute Abend abgegeben.«
    »Danke.« Pelagia erbrach bebend das Siegel und las die Worte. »Sei in drei Tagen auf der Seemauer. Kallinikos.«
    ***
    Am Morgen des dritten Tages stieg Pelagia bereits bei Sonnenaufgang auf die Seemauer. Auf geheimnisvolle Weise hatte es sich herumgesprochen, dass dieser Tag anders sein würde. Vielleicht anders als alle, die seit Beginn der Belagerung verstrichen waren. So füllten sich die Wehrgänge mit Menschen, die sich sonst nie dahin gewagt hätten. Wo an einem gewöhnlichen Tag alsbald die feindlichen Geschosse einschlagen würden, drängten sich Kaufleute, Händler, Bettler, Bogenschützen, Advokaten, Priester, Huren und Soldaten.
    Pelagia stand in einer Ecke auf einem Haufen Steinbrocken, den Geschossen einer Wurfmaschine, und
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