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Sherlock Holmes - gesammelte Werke

Sherlock Holmes - gesammelte Werke

Titel: Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Autoren: Anaconda
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stiefelaufschlitzendes Exemplar der Londoner Dienstbotenwelt haben. Und was nun Ihre Praxis betrifft, so müsste ich doch wirklich schwachköpfig sein, wenn ich einen Herrn, der nach Jodoform riecht, auf dessen rechtem Zeigefinger ein schwarzer Fleck von Höllenstein prangt, während die Erhöhung seiner linken Brusttasche deutlich das Versteck seines Stethoskops verrät, nicht auf der Stelle für einen praktischen Arzt halten würde.«
    Ich musste lachen, mit welcher Leichtigkeit er diese Folgerungen entwickelte. »Wenn ich Ihre logischen Schlüsse anhöre, erscheint mir die Sache lächerlich einfach, und ich glaube es ebenso gut zu können«, bemerkte ich. »Und doch überrascht mich jeder Beweis Ihres Scharfsinns aufs Neue, bis Sie mir den ganzen Vorgang erklärt haben. Nichtsdestoweniger sehe ich genauso gut wie Sie.«
    »Sehr richtig«, entgegnete er, steckte sich eine Zigarette an und warf sich in den Lehnstuhl. »Sie sehen wohl, aber Sie beobachten nicht. Der Unterschied ist ganz klar. Sie haben z. B. häufig die Stufen gesehen, die vom Flur in dies Zimmer hinaufführen.«
    »Sehr häufig.«
    »Wie oft?«
    »Nun, sicher einige Hundert Mal.«
    »Dann werden Sie mir auch wohl sagen können, wie viele es sind?«
    »Wie viele? Nein, davon hab ich keine Ahnung.«
    »Sehen Sie wohl, Sie haben zwar gesehen, aber nicht beobachtet. Das meine ich ja eben. Ich weiß ganz genau, dass die Treppe siebzehn Stufen hat, weil ich nicht nur gesehen, sondern auch beobachtet habe. – A propos, da ich Ihr Interesse für meine kleinen Kriminalfälle kenne – Sie hatten sogar die Güte, eine oder zwei meiner geringen Erfahrungen aufzuzeichnen –, wird Sie vermutlich auch dies interessieren.« Er reichte mir einen Bogen dicken, rosenfarbenen Briefpapiers, der geöffnet auf dem Tisch lag. »Dies Schreiben kam mit der letzten Post an, bitte lesen Sie vor.«
    Der Brief, der weder Datum noch Unterschrift und Adresse trug, lautete:
    »Ein Herr, der Sie in einer sehr bedeutungsvollen Angelegenheit zu sprechen wünscht, wird Sie heute Abend um drei Viertel acht aufsuchen. Die Dienste, die Sie unlängst einem regierenden europäischen Haus erwiesen, geben den Beweis, dass man Ihnen Dinge von allerhöchster Wichtigkeit anvertrauen kann. Dies Urteil wurde uns von allen Seiten bestätigt. Bitte also zur bezeichneten Zeit zu Hause zu sein und es nicht falsch zu deuten, wenn Ihr Besucher eine Maske trägt.«
    »Dahinter steckt ein Geheimnis«, bemerkte ich. »Können Sie sich das erklären?«
    »Bis jetzt habe ich noch keine Anhaltspunkte. Es ist aber ein Hauptfehler, ohne dieselben Vermutungen aufzustellen. Unmerklich kommt man so der Theorie zuliebe zum Konstruieren von Tatsachen, statt es umgekehrt zu machen. Doch was schließen Sie aus dem Brief selbst?«
    Ich prüfte sorgfältig Schrift und Papier.
    »Der Schreiber lebt augenscheinlich in guten Verhältnissen«, meinte ich, bemüht, das Verfahren meines Freundes so getreu als möglich zu kopieren. »Das Papier ist sicher kostspielig, es ist ganz besonders stark und steif.«
    »Ganz richtig bemerkt«, sagte Holmes. »Auf keinen Fall ist es englisches Fabrikat. Halten Sie es mal gegen das Licht.«
    Ich tat es und sah links als Wasserzeichen ein großes E und C und auf der rechten Seite ein fremdartig aussehendes Wappen in das Papier gestempelt. »Nun, was schließen Sie daraus?«, fragte Holmes.
    »Links ist der Namenszug des Fabrikanten.«
    »Gut, aber rechts?«
    »Ein Wappen als Fabrikzeichen, ich kenne es jedenfalls nicht«, antwortete ich.
    »Dank meiner heraldischen Liebhaberei kann ich es Ihnen verraten«, sagte Holmes. »Es ist das Wappen des Fürstentums O…«
    »Dann ist der Fabrikant vielleicht Hoflieferant«, meinte ich.
    »So ist’s. Doch der Schreiber dieses Briefes ist ein Deutscher. Fiel Ihnen nicht der eigentümliche Satzbau auf? ›This account of you we have from all quarters received.‹ Ein Franzose oder Russe kann das nicht geschrieben haben, nur der Deutsche ist so unhöflich gegen seine Verben. Haha, mein Junge, was sagen Sie dazu?«
    Seine Augen funkelten, und aus seiner Zigarette blies er große blaue Triumphwolken.
    »Nun müssen wir noch herausfinden, was dieser Deutsche wünscht, der auf diesem fremdartigen Papier schreibt und es vorzieht, sich unter der Maske vorzustellen. Wenn ich nicht irre, kommt er jetzt selbst, um den Schleier des Geheimnisses zu lüften.«
    Der scharfe Ton von Pferdehufen und das knirschende Geräusch von Rädern ließ sich hören, dann
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