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Shakespeares ruhelose Welt

Shakespeares ruhelose Welt

Titel: Shakespeares ruhelose Welt
Autoren: Neil MacGregor
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, 1.3.), welcher Familie gehören wir dann alle an? Kein Satz der Bibel, kein Wort der klassischen Autoren hatte uns darauf vorbereitet. Das war Aufgabe der neuen Autoren und Denker, sie mussten eine neue Menschheit imaginieren.
    Als die um 1560 geborene Generation das Erwachsenenalter erreichte, waren sie, Männer und Frauen zwischen dreißig und fünfzig, die ersten, die Shakespeares Stücke sahen: Sie mussten sich mit einer Welt auseinandersetzen, die sich von der ihrer Eltern grundlegend unterschied, mit einer Welt, die kurz zuvor erst sehr viel größer geworden war, der zugleich aber viele ihrer wesentlichsten Gewissheiten zerbrochen waren. Das ist die Welt, in die uns Kapitel Eins führt.

    Erdaufgang, aufgenommen am 24. Dezember 1968 von William Anders aus der Raumkapsel Apollo 8.



Kapitel Eins
    England erobert die Welt
    Gedenkmedaille zu Sir Francis Drakes Weltumsegelung
«OBERON: Schneller als die Monde kreisen,
Können wir die Erd’ umreisen.»
«DROLL: Rund um die Erde zieh’ ich einen Gürtel
In viermal zehn Minuten.»
    A m Weihnachtsabend 1968 hat Apollo 8 als erstes bemanntes Raumschiff den Mond umkreist. Das Filmmaterial, das die NASA zur Bodenstation sendete, hat unsere Wahrnehmung der Erde verändert. Denn als die drei Astronauten die dunkle Seite des Mondes umflogen, schwebte die Erde als große Kugel in der unendlichen Dunkelheit des Raums. Es war das erste Mal, dass Menschen den ganzen Planeten mit einem Blick sehen konnten, und seither hat die Welt ein neues Bild von sich.
    Eine völlig andere Reise hat, knapp 400 Jahre zuvor, eine vergleichbare Revolution ausgelöst, allerdings in kleinerem, in nationalem Maßstab. 1580 war Sir Francis Drake zum ersten Engländer geworden, historisch allerdings nur zum zweiten Kapitän, der sein Schiff rund um die Erde gesteuert hat. Nun sah auf einen Schlag – für die Engländer – die Welt ganz anders aus. Ihre Grenzen waren jetzt bekannt: Man konnte sie in einer Karte erfassen und aufzeichnen. Sie konnte umrundet, von einem einzigen englischenSchiff durchquert werden. 1580 war Shakespeare sechzehn Jahre alt. Für ihn und seine Zeitgenossen hatten sich die Grenzen dessen, was Menschen möglich ist – ob mit Reisen oder Abenteuern, ob im Wissen oder im Streit – dramatisch erweitert.

    Die Golden Hind unter Segel, ein Nachbau von 1973. Sie war das einzige der drei Schiffe aus Drakes kleiner Flotte, das von der Weltumsegelung zurückkam. Auch der Nachbau hat die Welt umrundet.
    Er könne, prahlt der mutwillige Puck in Ein Sommernachtstraum vor Elfenkönig Oberon, die Welt in kaum mehr als einer halben Stunde umrunden – schneller also als ein Satellit unserer Tage, der dazu rund neunzig Minuten braucht. Alle im Zuschauerraum wussten natürlich, dass Francis Drake nahezu drei Jahre unterwegs gewesen war. Die Silbermünze, die zur Feier von Drakes Heldentat geprägt wurde, zeigt die Welt, die er durchquert hatte. Das Silberstück hat einen Durchmesser von ungefähr sieben Zentimetern und ist kaum dicker als ein Blatt Papier. Auf der einen Seite erkennt man Europa, Afrika und Asien, auf der andern die beiden Amerika. Hält man die Münze gegen das Licht, sieht man die winzigen Punkte, die Drakes Route markieren: von Plymouth hinunter zur Spitze Südamerikas, es folgen Einstiche bei Lima und Panama, und weiter bis Kalifornien, über den Pazifik zu den Gewürzinseln Indonesiens, sodann rund ums Kap der Guten Hoffnung, undschließlich die Küste Westafrikas hinauf zurück nach Hause. Ein um den Südpol geprägter Schriftzug sagt uns, in lateinischen Kürzeln: «D. F. Dra. Exitus anno 1577 id. Dece.» (Abfahrt von Francis Drake, im Jahr 1577, an den Iden des [dem 13.] Dezember), auf der Rückseite der Münze lesen wir: «Reditus anno 1580. 4 Cal. Oc.» (Rückkehr im Jahr 1580 am 4. der Kalenden des Oktober [28. September]).
    Geprägt um die Zeit, in der Shakespeare seine Theaterkarriere in London begann, lässt uns diese in Silber geschlagene Erinnerungskarte – so prächtig, so wissenschaftlich und modern wie sie ist – im Wortsinn begreifen, wie man die Welt in den 1580er, 1590er Jahren wahrnehmen konnte. Für den elisabethanischen Theaterbesucher, der in den 1590ern zum ersten Mal Ein Sommernachtstraum sah, waren das Umrunden des Globus, das Gürtelziehen um die Erde patriotische Nachrichten, und jeder, davon können wir ausgehen, jeder unter den Zuschauern hatte davon gehört. Auch wenn sie im Wald bei Athen hausen, die Feen sind äußerst englisch,
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