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Shakespeares ruhelose Welt

Shakespeares ruhelose Welt

Titel: Shakespeares ruhelose Welt
Autoren: Neil MacGregor
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Westminster Abbey bestaunen; und sehr viele von ihnen taten das auch. Der Eintrittspreis für die Abbey war der gleiche wie der für einen Stehplatz im Globe , und für diesen Penny konnte der elisabethanische Besucher das Grabmal Heinrichs V. besichtigen, dieser Geißel Frankreichs: Über seinem Helm hing das Schwert, mit dem er seine Soldaten zum Sieg geführt hatte (Kapitel Sechs).
    Diese Objekte waren real und ebenso beliebt wie Churchills Kriegsbunker heute, eine solide und verlässliche Grundlage für die Vorstellung nationaler Einheit und fortwährender nationaler Überlegenheit. Zur Generation Shakespeares, der nach annähernd 500 Jahren ersten, die ein England bewohnte, das keine Besitzungen mehr in Frankreich hatte (Calais war 1558 verloren gegangen) und das einen endlosen Krieg in Irland führte, zu dieser Generation werden Heinrichs Helm und Schwert nicht weniger machtvoll gesprochen haben als Shakespeares Verse. Das gerade protestantisch gewordene England verfügte nur über wenige öffentlich sichtbare Objekte, die es mit so enormer kollektiver Bedeutung aufladen konnte. Westminster Abbey aber, jahrhundertelang ein Schrein für Heilige, war zu einem Schrein der Könige geworden.
    Die Königsgräber, säkulare Reliquien erster Ordnung, waren um so eindrucksvoller, als religiöse Reliquien aus dem öffentlichen Leben nahezu verschwunden waren, eine Folge der brutalen Zerstörungen der Reformation. Der Bruch mit Rom hatte zu neuen Vorstellungen einer Church of England geführt, die sich vom Christentum anderswo unterschied. Indem Shakespeares Zuschauer die Grabinsignien Heinrichs V. in der Abtei betrachteten, sodann auf der Bühne die Rede an seine Soldaten hörten, konnten sie direkt erleben, wie sich die Forderungen einer Religion der Nation überschnitten mit denen einer Nation als Religion. In einigen der folgenden Kapitel werden wir sehen, wie diese sorgfältig arrangierte Verschmelzung von Spirituellem und Staatlichem ein neues nationales Selbst hervortrieb und zugleich spaltete.
    Doch gab es auch Welten, die das Theater mied, nicht zu berühren wagte. So die Welt der Pest, die doch zentral war für die Existenz der Zuschauer (wo nicht für die Nichtexistenz vieler von ihnen), in den Stücken aber kaum oder gar nicht präsent. Auch die benachbarte und doch so unendlich ferne Welt Irlands, fortwährende Hauptbeschäftigung der Politiker, bedrohlich für die öffentliche Sicherheit und, was die öffentlichen Ausgaben anging, ein Fass ohne Boden, ist in Shakespeares Texten praktisch unsichtbar. Schließlich ein letztes Anathema: die zehrende, unausgesprochene Furcht, was mit dem Land geschehen würde, sollte die Königin ohne Erben sterben – an diese Frage zu rühren war per Gesetz verboten, niemand hätte darüber sprechen können, ohne Gefängnis oder Schlimmeres fürchten zu müssen.
    Hier können Objekte leisten, was Textkritik nicht erreichen kann. Denn sie rücken Ängste in den Blick, von denen die Schauspieler nicht sprechen konnten, die die Zuschauer gleichwohl ins Theater mitbrachten – und die ihre Reaktionen auf jene dynastischen Konflikte und auswärtigen Kriege prägten, die sie auf der Bühne verfolgten. Am beunruhigendsten war die Furcht, die Königin könnte von Englands Feinden ermordet werden. Das zu fürchten bestand durchaus Grund, wie wir in Kapitel Elf sehen werden; aber diese Furcht wurde von der Regierung auch bewusst geschürt. Die Angst vor feindlichen Spionen, die sich überall unerkannt herumtrieben, vor heimlichen Verschwörern mit dem Plan, die Monarchin zu töten und den Staat umzustürzen, diese Angst wird Shakespeare durch seine vielen Reden über Mord und Verschwörung noch entsetzlicher gemacht haben. Edward Oldcornes Auge (Kapitel Neunzehn) belegt, dass Agenten einer fremden Macht das Land, so wie vom Volk befürchtet, tatsächlich und mit Erfolg infiltriert hatten. Wir sind leicht dabei, solche Ängste als Paranoia abzutun. Doch die Verkleidungen in der Hausiererkiste aus Kapitel Vierzehn sind ein Beweis dafür, dass jene, die, wie man glaubte, nicht loyal zur Königin standen, aktiv und heuchlerisch ein heimliches Netz durch England gesponnen hatten.
    Auch jenes schrumpelige Auge ist ein Objekt, das wie Gabel und Stoßdegen Theater und Straße verbindet. Oldcornes Hinrichtung war ein öffentliches Spektakel, eine die Menge ergötzende Szene im Theater der Grausamkeiten, das die Menschen zunächst anzog, dann gruselte, schließlich faszinierte und unterhielt.
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