Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Serum

Serum

Titel: Serum
Autoren: R. Scott Reiss
Vom Netzwerk:
sorgfältig.«
    Und ich dachte: Ich werde nie heiraten.
    Nachdem ich fort war, rief ich jede Woche an und besuchte sie zu Weihnachten und Ostern. Und später beauftragte ich jeden Sonntag einen Fahrdienst, der meine Eltern zu Shows in die Stadt chauffierte. Ich schickte sie auf Kreuzfahrten. Ich verbrachte Stunden bei Mom im Krankenhaus. Aber noch jahrelang verband ich mit Devil’s Bay den Geruch nach Salmiak, Bettpfannen und Lysol.
    Auf dem Weg zu Pams Beerdigung kam all das wieder hoch, als wäre der F-Zug nach Devil’s Bay eine Zeitmaschine. Dann stand ich auf der anderen Straßenseite und sah die Trauergäste in die Kirche hineinströmen. Ich erkannte ein paar alte Freunde und Freunde meiner Eltern wieder, gebeugt, schmaler, älter.
    Ich wartete, bis alle drinnen waren, bevor ich hineinging und mich in die letzte Reihe setzte. Die Heiligenstatuen in ihren Alkoven schienen mich nicht aus den Augen zu lassen. Ich brachte es nicht über mich, nach vorne zu gehen und Pams Leichnam anzusehen, und schon gar nicht den größeren Sarg daneben, in dem mein sechzehnjähriger Sohn lag. Würde ich mich in seinem Gesicht wiedererkennen?, fragte ich mich.
    Flüstern wurde laut, Köpfe drehten sich nach mir um, und ich wappnete mich für eine Konfrontation mit Tia oder ihrem Vater. Dann sah ich ihn in der vordersten Reihe aufstehen und auf mich zukommen, mit dem schweren Schritt eines Menschen, der viel körperlich gearbeitet hat.
    Ich griff nach meinem Mantel und erhob mich, bereit zu gehen.
    Aber er nahm mich beim Arm. »Komm mit nach vorne, Mike«, sagte er. »Du gehörst zur Familie.«
    »Ich soll vorne bei euch sitzen?«
    »Tia hätte dich nicht anrufen sollen. Sie schleppt so viel Zorn mit sich herum. Es war nicht richtig, dir Vorwürfe zu machen. Die Familie empfindet nicht so wie sie. Ich wusste, du würdest kommen.«
    Wie betäubt wiederholte ich: »Bei der Familie?« Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen.
    »Wir haben eine Familienkonferenz abgehalten, als Pam erfuhr, dass sie schwanger war«, erklärte er mir später bei einem Bier im selben Keller, wo ich seine Tochter zum ersten Mal geküsst hatte. »Mike, ich habe dich immer gemocht. Du hast hart gearbeitet. Dich um deine Mom gekümmert. Wer konnte dir übelnehmen, dass du da rauswolltest? Du hattest keine Kindheit. Pam hat das verstanden.«
    »Deshalb hat sie es mir nie gesagt?«
    Mr Grano schüttelte den Kopf. »Nein. So edel ist niemand. Ich sagte, sie sollte ehrlich zu sich selbst sein. Ich sagte: ›Wenn du nicht schwanger wärst, würdest du Mike dann heiraten und dein ganzes Leben mit ihm verbringen wollen? Mit ihm und keinem anderen? Denn glaub nicht, dass du wegen eines Babys anders empfinden wirst.‹ Und sie antwortete, dass sie es nicht wüsste. Sie hatte zu viel Angst. Na ja, ich hab genug schlechte Ehen gesehen, an denen Eltern und Kinder kaputtgegangen sind, also sagten ich und Millie einfach zu ihr, dass wir sie liebhätten, so oder so. Es wäre uns egal, wer der Vater ist. Wir sagten: ›Sag Mike nur dann etwas, wenn du bereit bist, dein Leben mit ihm zu verbringen.‹ Unsere Sorge galt Pam und unserem Enkel, nicht dir, Mike. Deshalb hoffe ich, dass du mir vergibst. Sie hatte ein erfülltes Leben voller Liebe, und Paul ebenso. Glaub nicht, du hättest sie im Stich gelassen. Pam würde wollen, dass ich dir das sage, egal, was meine andere Tochter denkt.«
    Ich ging hinaus an den Strand. Als ich außer Sichtweite war, brach ich in Tränen aus. Ich hatte Verbrecher verhaftet. Ich hatte einen Mann erschossen, der mich zu töten versuchte. Aber ich flennte wie ein Neunjähriger um ein Kind, das ich nie gesehen hatte, und ein Leben, vor dem ich fortgelaufen war.
     
    Als ich wieder ins Haus kam, begriff ich, dass die Familie meine Vaterschaft vor der ganzen Nachbarschaft geheim gehalten hatte. Tia funkelte mich an, sagte aber kein Wort. Und ich wusste, dass mein Sohn sich nie, nicht für einen Augenblick, ungeliebt gefühlt hatte. Er war im Schoß der Familie aufgewachsen.
    Ein paar meiner alten Kameraden von der Highschool begrüßten mich herzlich, aber ich gehörte nicht mehr dazu. Ich hatte mich in eine andere Richtung entwickelt. Doch was war ich? Ein Playboy mit Spesenkonto? Ein Staatsdiener, der mit Verbrechern Kuhhandel schloss? Ein Mann, der nicht erwachsen werden wollte?
    Kurz darauf kam das Stellenangebot von Lenox, und ich kaufte das Haus in Devil’s Bay, damals ein Restaurierungsobjekt. An den Wochenenden arbeitete ich an
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher