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Sense

Sense

Titel: Sense
Autoren: Jörg Juretzka
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rostroten 77er Carina kreuzen konnten, ohne gleich zwangsweise an den FINALEN RETTUNGSSCHUSS zu denken.
    Als geborener Städter kann ich meinem Ortssinn normalerweise blind vertrauen, und so beschlichen mich erste Zweifel auch erst, als sich die endlose Weite des Baldeneysees vor mir bis zum Horizont erstreckte.
    »Scheiße«, entfuhr es mir mit Gefühl. Einerseits wusste ich endlich wieder genau, wo ich war, andererseits hatte ich mich geschlagene zwanzig Minuten lang in der falschen Richtung durch den Verkehr gebaggert. Kurz entschlossen wendete ich über den Grünstreifen, der die Fahrbahnen trennte, gabs dem Motor mit der Hacke und durchforstete das Handschuhfach nach Musik. AC/DC? AC/DC. Und den Regler auf >Full Blast<.
    Vom Armaturenbrett griff ich mir die zerknüllte Schachtel Kippen und fummelte die erste von den zwanzig oder dreißig Camel dieses Tages ans Licht. Plus abends noch mal die gleiche Anzahl, und man könnte auf die Idee kommen, ich rauchte etwas viel. Etwas zu viel. Ab morgen würde ich es einschränken. Und das Saufen auch. Jawohl, das Saufen auch. Aber echt. So etwas wie die Morgendämmerung kommender Nüchternheit kroch mir mit eiskalten Händen die Beine hoch. Doch egal. Ab morgen würde ich mich zusammenreißen.
    »Thunder!«, begleitete ich die australischen Hardrocker aus vollem Hals, hämmerte auf das Lenkrad und wechselte die Fahrspuren im Takt dazu. Schwingend wie ein Surfer ließ ich mich von der Dünung des innenstadtorientierten Verkehrs praktisch wie von allein bis in die City tragen. Ich fand mein Parkhaus mit den fünf unterirdischen Etagen, steuerte die Carina bis ganz unten ganz hinten und parkte sie mit der grün-weiß verschrammelten Seite ganz dicht an eine Wand geschmiegt. Wie ich sie in ein paar Tagen wieder auslösen sollte, war, zumindest was das Finanzielle anging, noch nicht bis ins Letzte geklärt (die Barschaft in meiner Tasche hätte noch nicht mal gereicht, sie in diesem Augenblick wieder rauszufahren), doch Veronika hatte ja was von einem dicken Fisch gesagt, und ab morgen würde sowieso alles anders. Ab morgen würde ich mich den Realitäten stellen. Lachend.
    Im Grunde seines Herzens träumt wohl jeder Kerl davon, mit einer Frau zusammen zu sein, die allein mit der Art, wie sie geht, einem Mann das Sprachvermögen rauben und durch einen nervösen Tick ersetzen kann. Die nur mit dem Aufblitzen eines Lächelns einem Mann glatte fünfzig Prozent seines IQs zu löschen vermag. Die über einen Augenaufschlag verfügt, der geeignet ist, einem Mann den Gürtel zu öffnen, den Knopf abzureißen, den Reisverschluss herunterzuzippen und den Gummibund der Feingerippten bis zur Haltlosigkeit auszuleiern. Die es fertig bringt, einen bis dato stolzen, unabhängigen, selbstbestimmten Mann mit einem einzigen Kuss in eine therapieresistente Hörigkeit zu treiben.
    Wie gesagt, es träumt wohl jeder davon, doch wenn es dann hinhaut . Leicht ist es nicht.
    Es ist nicht leicht für einen Mann, mit einer Rocksängerin zusammen zu sein. Schon gar nicht, wenn sie daherkommt wie eine dunkelhaarige Gazelle in schwarzem Leder. Es ist nicht leicht, sie morgens mit einem Kuss und einem warmen >Und pass auf dich auf< zur Arbeit zu verabschieden, wenn man weiß, dass ihre Arbeit aus einer circa dreimonatigen, hastig zusammengestoppelten Tournee mit ihrer Mädels-Punkband >The Pussies< besteht, während der sie von weißblonden, muskulösen Schweden bis hin zu scharfnasigen, schmalen Andalusiern Männer kreuz und quer durch ganz Europa in Zuckungen versetzen wird. Von der Bühne aus. Nur von der Bühne aus. Hofft man.
    Mach das Beste draus, hatte ich mir gesagt. Genieß deine Freiheit, hatte ich mir gesagt. Häng nicht zu Hause rum und beiß Nägel, marter dich nicht mit der Frage, wo sie wohl gerade steckt, was sie wohl gerade treibt, hatte ich mir gesagt, sondern zieh los und mach einen drauf! Hatte ich mir gesagt. Wann war das gewesen? Musste 'ne Woche oder zwei her sein, mittlerweile. Oijoi.
    Vom Parkhaus bis zur Kanzlei waren es vielleicht fünf Minuten zu Fuß; Zeit, die ich nutzen wollte, um mich zu sammeln und richtig wach zu werden. Mir lag aus verschiedenen Gründen daran, einen guten Eindruck zu machen. Zumindest, was meine geistige Verfassung anging. Über mein äußeres Erscheinungsbild machte ich mir wenig Illusionen.
    Der Regen hatte nachgelassen. Na, fein.
    Die Kanzlei van Laar und Loftheide (Veronika hatte Gabriel Loftheide als Partner aufgenommen, einen affigen Mutterschänder
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