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Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Titel: Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Autoren: Anne Holt
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nicht mehr Nacht. Ein weißer Maimorgen war ins Zimmer gewandert, und ihre Haut wirkte fast bläulich. Sie wagte nicht, sich so weit umzudrehen, daß sie den Nachttischwecker sehen konnte. Sie lag ganz still und horchte auf ihren eigenen Herzschlag. Drei Stunden lang. Danach war sie fast sicher. Er mußte gegangen sein.
    Steif erhob sie sich und blickte an ihrem Körper hinunter. Ihre Brüste hingen leblos herab, als ob sie ihr Schicksal betrauerten oder vielleicht auch schon tot wären. Die Knöchel waren dick geschwollen. Eine breite, unregelmäßige Blutspur zog sich unten um beide Waden. Ihr Enddarm tat entsetzlich weh, und die Vagina pochte schmerzhaft bis in ihren Bauch hinein. Ruhig, fast schon apathisch, zog sie das Bett ab. Das ging schnell, und sie versuchte, das Bettzeug in den Mülleimer zu werfen. Der war nicht groß genug. Weinend und mit wachsender Wut mühte sie sich vergeblich, das Zeug hart in die Mülltüte zu stopfen. Sie mußte aufgeben und blieb vollständig aufgelöst, nackt und wehrlos auf dem Boden sitzen.
    Lieber Gott, warum konntest du mich nicht sterben lassen?
    Die Türklingel schrillte brutal durch die Wohnung. Sie fuhr zusammen, und sie konnte einen Schrei nicht unterdrücken.
    »Kristine?«
    Die Stimme kam von weit, weit her, aber die Angst war selbst durch die beiden Türen zu hören.
    »Geh weg«, murmelte sie, ohne die Hoffnung, er könnte es hören.
    »Kristine? Bist du da?«
    Die Stimme wurde lauter und ängstlicher.
    »Geh weg!«
    Alle Kraft, die ihr nachts, als sie sie gebraucht hatte, gefehlt hatte, sammelte sich zu einem einzigen Schrei.
    Gleich darauf stand er vor ihr und rang um Atem. Sein Schlüsselbund fiel zu Boden.
    »Kristine! Meine Kleine!«
    Er bückte sich und legte behutsam die Arme um den nackten, zusammengekrümmten Körper. Der Mann zitterte vor Entsetzen, und sein Atem jagte wie bei einem Kaninchen. Sie wollte ihn trösten, etwas sagen, das alles wiedergutmachen würde, sagen, daß alles in Ordnung, daß nichts passiert sei. Aber als sie den steifen Stoff seines Wanderhemdes an ihrem Gesicht und den beschützenden, vertrauten Männergeruch spürte, gab sie auf.
    Ihr riesiger Vater hielt sie im Arm und wiegte sie wie ein kleines Kind. Er wußte, was passiert war. Der Mülleimer mit dem hervorquellenden Bettzeug, ihre blutigen Knöchel, die nackte, wehrlose Gestalt, das verzweifelte Weinen, das er noch nie gehört hatte. Behutsam trug er sie zum Sofa und wickelte sie in eine Decke. Der grobe Wollstoff kratzte zwar auf ihrer nackten Haut, aber er wollte sie nicht loslassen, um ein Laken zu holen. Statt dessen schwor er sich einen heiligen Eid, während er ihr immer wieder über die Haare strich.
    Aber davon sagte er ihr nichts.

MONTAG, 31. MAI
    Sie konnte sich einfach nicht daran gewöhnen. Die vierundzwanzig Jahre alte Frau, die vor ihr saß und den Boden anstarrte, war Hanne Wilhelmsens zweiundvierzigstes Vergewaltigungsopfer. Sie führte Buch darüber. Vergewaltigung war das Allerschlimmste, anders als ein Mord. Ein wilder, wütender Augenblick, gewaltiger Affekt, vielleicht seit Jahren aufgestaute Aggression. Ein Mord war fast zu verstehen. Eine Vergewaltigung nicht.
    Das Opfer hatte seinen Vater mitgebracht. Das kam nicht selten vor. Ein Vater, eine Freundin, ab und zu der Freund. Aber nur selten eine Mutter. Seltsam. Vielleicht stand eine Mutter zu nahe.
    Der Mann war riesig groß und schien in dem engen Sessel fehl am Platze. Er war nicht wirklich übergewichtig, er war einfach riesig. Und seine zusätzlichen Kilo standen ihm gut. Er war sicher über eins neunzig, eine vierschrötige Erscheinung, sehr maskulin und ziemlich unschön. Eine gewaltige Pranke hatte sich über die schmächtige Hand der Tochter gelegt. Sie sahen einander auf undefinierbare Weise ähnlich. Die Frau war von ganz anderem Körperbau, fast zart, wenn sie auch die hohe Gestalt ihres Vaters geerbt hatte. Die Ähnlichkeit lag in den Augen, dieselbe Form, dieselbe Farbe. Und genau derselbe Ausdruck. Ein hilfloser, trauriger Zug, der bei dem riesigen Mann überraschenderweise noch mehr auffiel.
    Hanne Wilhelmsen war verlegen. An Vergewaltigungen konnte sie sich einfach nicht gewöhnen. Aber Hanne Wilhelmsen war tüchtig. Tüchtige Polizistinnen zeigen ihre Gefühle nie. Jedenfalls nicht, wenn sie verlegen sind.
    »Ich muß dir ein paar Fragen stellen«, sagte sie leise. »Einige davon sind nicht besonders angenehm. Schaffst du das trotzdem?«
    Der Vater wand sich in seinem Sessel.
    »Sie
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