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Sekunde der Wahrheit

Titel: Sekunde der Wahrheit
Autoren: Hayes Joseph
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verschlug ihm die Sprache, und der Magen verkrampfte sich vor Übelkeit. Auf dem Bild waren die gleichen Hände zu sehen – zerschmettert, blutverschmiert, die Finger flach und leblos. Und der Ring schien quer zu hängen in zermahlenem Fleisch.
    Er dachte einen Moment, er müsse kotzen.
    Und ein Wort schoß ihm durch den Kopf.
    »Ist er tot, Clay? Ich muß es wissen. Ist der arme Pepe tot?«
    Das Wort, das ihm eingefallen war, war ein Name. Owen.
    Paul und Annabelle Hautot machten einen Morgenspaziergang über die schon recht belebten Straßen. Es war das erste Mal seit dem grausamen Zwischenfall mit den perversen Sadisten in jener zwielichtigen Bar, daß Paul das Hotel verließ. Er konnte wieder aufrecht gehen, allerdings so steif, daß es schon fast arrogant wirkte.
    Annabelle hatte sich bei ihm eingehängt, aber nur ganz leicht, um ihm an den frisch verheilten Wunden nicht weh zu tun. Während seiner Rekonvaleszenz, als sie ihn hingebungsvoll gepflegt hatte, waren sie übereingekommen, verschiedenes in Zukunft anders zu machen, und sie hatten es mit einem Glas exquisitem Champagner besiegelt, den Annabelle in einem Exportladen aufgetrieben hatte.
    Er wollte künftig die Hände von homosexuellen Affären jeder Art lassen, und sie wollte nicht mehr mit Kokain herumexperimentieren, auch nicht mit anderen Drogen. Sie wollten sich ausschließlich einander zuwenden und widmen. Und sie beschlossen, nie mehr ein Pferd im Kentucky Derby starten zu lassen.
    Beide waren sich durchaus bewußt, daß diese guten Vorsätze bis auf den letzten nicht würden durchgehalten werden können. Und jeder wußte es vom anderen, daß der es ebenfalls wußte. Aber mittlerweile genossen sie die Gesellschaft des anderen, wollten sich die Nachmittagsrennen ansehen, und darunter das Kentucky Derby. Viel Glück, Bonne Fête!
    »Ich bin's, Kimberley. Lassen Sie mich bitte rein.«
    Brigid öffnete die Tür. Kimberley, immer wieder Kimberley.
    Das Mädchen ging zu ihrem Vater und beachtete Brigid überhaupt nicht.
    »Andrew, ich bin soweit.«
    »Wirklich?« Andrew betrachtete sie stirnrunzelnd. »Kimb, setz dich her. Du siehst …«
    »Mir geht's gut. Ich habe mich nie wohler gefühlt.« Ihr Ton war wie ihr Gesichtsausdruck distanziert. »Ich bin bereit, zu gehen.«
    »Wohin willst du gehen, Tochter?« fragte er sanft. »Das Rennen fängt erst um halb sechs an …«
    Sie schüttelte den Kopf, so daß ihr helles, ungekämmtes Haar flog. »Das meine ich nicht. Ich will heim.«
    Brigid wollte sich in das Schlafzimmer zurückziehen, aber Andrew schüttelte den Kopf und flehte sie fast mit Blicken an, nicht wegzulaufen. Sie blieb.
    »Kimberley, wir wissen alle, daß du schwere Tage hinter dir hast. Aber du willst doch das Derby nicht versäumen, nach allem …«
    »Andrew, bitte. Bring mich heim. Das ist der einzige Ort, an dem ich sein möchte. Es ist der einzige Ort, an dem ich immer sein wollte.« Die Worte überschlugen sich fast. »Bring mich von hier weg, hier passieren schreckliche Dinge. Bitte, Andrew, wenn du mich liebst, dann bring mich weg. Du liebst mich doch, oder? Ich will nach Hause, und mit dir, mit dir, Andrew, kannst du das nicht verstehen?«
    Kimberley stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihren Vater. Auf den Mund und voll Verzweiflung. Ihre Arme umfingen ihn, und mit einer Hand umfasste sie seinen Hinterkopf. Sie küßte ihn, wie Brigid noch nie eine Tochter ihren Vater hatte küssen sehen. Ihr ganzer Körper war an seinen gepresst und drängte sich leidenschaftlich an ihn.
    Brigid wandte sich ab und verließ zitternd das Zimmer. So hatte noch nie eine Tochter ihren Vater geküßt, und sie wollte so etwas auch nie mehr sehen.
    Die Härte und Gefährlichkeit, die in Clay Chalmers Augen lag, rieten Christine Rosser, ihm nicht die Tür vor der Nase zuzumachen. Also trat sie beiseite, und er ging in die geräumige Diele.
    »Er ist nicht an der Bahn, also muß er hier sein«, konstatierte Clay Chalmers.
    »Klar bin ich hier«, erwiderte Owen vom obersten Absatz der geschwungenen Treppe. Dann kam er herunter. »Welchem Umstand verdanke ich die Ehre, kleiner Bruder? Und das am Derbytag.«
    »Ist er tot?«
    »Komm rein, trinken wir was.« Owen ging ins Wohnzimmer, während er sprach. »Wer soll tot sein, kleiner Bruder?«
    Clay folgte ihm, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Sie blieb reglos stehen und hörte zu. Sie wunderte sich, daß sie der seltsame Auftritt nicht mehr verblüffte, und sie bemerkte gleichzeitig,
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