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Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)

Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)

Titel: Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)
Autoren: Janine Binder
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gesehen!«, wiederholt sie immer wieder und schaut hilflos auf die Gesichter der Umstehenden, die zwar anklagend auf die Unfallfahrerin schauen, aber selbst keinerlei Anstalten machen, zu helfen oder gar Platz für die Rettungskräfte zu machen.
    Ein Blick zu meinem Kollegen reicht aus, und er versteht meinen unausgesprochenen Gedanken: »Schaff die Frau da weg!«
    Ich lasse mich auf die Knie fallen und spreche den Jungen an. »Hallo! Ich bin von der Polizei, kannst du mich hören?« Er nickt leicht, was die Platzwunde auf seiner Stirn noch heftiger bluten lässt.
    Ich sehe den Schädelknochen unter dem Blut aufleuchten, vertreibe die aufsteigende Panik gewaltsam aus meinem Gesicht und zwinge mich, ihn anzulächeln. »Alles prima. Du bleibst am besten hier genau so liegen. Du machst das super. Kannst du sprechen?«
    »Ja!«, erwidert er leise, und ich sehe, wie sich meine Kollegin aus dem zweiten Streifenwagen bemüht, die Schaulustigen zu entfernen, damit wir und die hoffentlich bald eintreffenden Rettungskräfte ungehindert arbeiten können.
    »Wer hat den Unfall gesehen? Kennt jemand den Jungen?«, höre ich ihre Stimme, während die Menschen sich langsam und zögerlich in Bewegung setzen. Teilweise murren sie sogar darüber, dass sie weggeschickt werden.
    Im Lauf meines bisherigen Berufslebens habe ich mich so an die Gaffer gewöhnt, die immer und überall auftauchen, wo etwas passiert ist, dass ich es kaum mehr wahrnehme, wenn um einen Verletzten zig Leute herumstehen und keiner hilft. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass ich irgendwann mal an eine Unglücksstelle komme, an der niemand im Weg steht und versucht, so viel Blut wie möglich zu sehen, sondern wo die Menschen Erste Hilfe leisten, die Beteiligten beruhigen oder einfach nur Platz machen, wenn wir oder die Feuerwehr eintreffen. In ganz krassen Fällen von Gafferei schreiben wir schon mal Anzeigen wegen unterlassener Hilfeleistung, doch dazu muss man in dem Durcheinander an den meisten Unfallorten erst mal die Zeit finden. So aber gehe ich möglichst konzentriert meiner Arbeit nach, denn jegliche Diskussion vor Ort würde nur zu unnötigen Verzögerungen führen.
    »Okay, tut dir irgendwas weh?«
    Der Kleine schüttelt vorsichtig den Kopf, und ein Schwall dickflüssigen Bluts rinnt erneut aus der Wunde und tropft auf die Straße. »Aber ich kann nicht aufstehen!« Eine Träne läuft über seine schmutzige Wange, und ich nehme seine Hand.
    »Das ist nicht schlimm. Weißt du, wenn man einen Unfall hat, dann steht man schon mal so unter Schock, dass einem die Muskeln nicht gehorchen. Das ist ganz normal. Gleich kommt ein Doktor, der schaut sich an, was passiert ist, und gibt dir eine Medizin. Dann wird das schon wieder.«
    Ich lege all meine Zuversicht in meine Stimme, und der Kleine lächelt mich an. »Ich wollte ja nur schnell zu meinem Freund auf die andere Straßenseite. Ich hab das Auto gar nicht gesehen, dabei hab ich so gut geguckt.« Um mir zu demonstrieren, wie gut er geguckt hat, bewegt er den Kopf von rechts nach links, und wieder suppt die blutige Masse aus der Stirnwunde. Ich muss mich zwingen, nicht panisch nach einem Notarzt zu brüllen, und schaue ihn weiter an, streichele seine kleine, kalte Hand und versuche unauffällig herauszufinden, wo er sonst noch verletzt ist.
    Erleichtert stelle ich fest, dass er weder aus den Ohren noch aus der Nase blutet. Der linke Arm scheint gebrochen zu sein, und an seiner Hüfte bildet sich auf der Jeans ein dunkler Blutfleck.
    Für die Kopfwunde kann ich nicht viel tun, sie ist so groß, dass ich keine Ahnung habe, wie ich da einen Druckverband drumbasteln soll. Also nehme ich mir die Wunde an der Hüfte vor. Ich lächele ihm zu, während ich erkläre, was ich gerade mache, immer darauf bedacht, ihn so wenig wie möglich zu bewegen. Als ich gerade seine Hose mit meinem Leatherman so weit aufgeschnitten habe, dass ich die Wunde sehen kann, werde ich zur Seite geschoben.
    Notarzt und Sanitäter sind da, entschuldigen sich kurz für ihr Zuspätkommen und übernehmen die Verarztung des Kleinen. Ich zwinkere ihm zu und winke kurz, dann greife ich den Kollegen bei der Unfallaufnahme unter die Arme.
    Der Zwerg ist tatsächlich einfach zwischen den parkenden Autos rausgelaufen. Eine Zeugin hat zwar gesehen, dass er sich nach rechts und links umgedreht hat, aber die Autos haben ihm so die Sicht verstellt, dass er den silbernen Golf gar nicht kommen sehen konnte. Obwohl die Frau nach Angabe der Zeugen höchstens
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