Seine Lordschaft lassen bitten
immer ein ziemlich deprimierender Raum«, fuhr Haviland fort. »Ich weiß noch, daß er mir als Kind Schrecken einflößte. Martin und ich pflegten in den Büchern herumzuwühlen, aber wir fürchteten immer, daß irgend etwas oder irgend jemand aus den dunklen Ecken auf uns zuschleichen würde. Was haben Sie denn da, Lord Peter? Oh, Foxes Buch der Märtyrer. Mein Gott! Wie haben mich diese Bilder in den alten Tagen erschreckt! Da war noch ein Band von Pilgrim's Progress mit einem höchst aufregenden Bild von Apollyon, das mir Alpdrücken verurs achte. Es stand immer in diesem Erker. Ja, hier ist es. Ist es übrigens wertvoll?«
»Eigentlich nicht. Aber diese Erstausgabe von Burton ist kostbar. Und dies ist ein außerordentlich feiner Boccaccio. Behandeln Sie ihn gut.«
»John Boccacce – The Dance of Machabree. Jedenfalls ein guter Titel. Ist das derselbe Boccaccio, der die anzüglichen Geschichten schrieb?«
»Ja«, sagte Wimsey, etwas kurz angebunden. Ihm paßte diese Einstellung zu Boccaccio nicht.
»Habe sie nie gelesen«, erklärte Haviland, indem er seiner Frau zuzwinkerte, »aber ich gl aube, der Vikar ist schoc kiert. «
»Durchaus nicht«, entgegnete Mr. Hancock mit einer sorgfältig zur Schau getragenen Toleranz. ›Et ego in Arcadia‹ – mit anderen Worten: man wird nicht Pfarrer ohne eine klassische Ausbildung und ohne Bekanntschaft mit weltlicheren Autoren als selbst Boccaccio. Diese Holzschnitte erscheinen meinem ungeübten Auge als sehr schön.«
»Das sind sie auch«, stimmte Wimsey zu.
»Da fällt mir noch ein anderes altes Buch ein mit fabelhaften Bildern«, sagte Ha viland. »Eine Art Chronik – wie war doch der Name – nach einer deutschen Stadt genannt, wo der Henker herkam. Gerade neulich wurde sein Tagebuch veröffentlicht. Wie hieß doch der Ort?«
»Nürnberg?« schlug Wimsey vor.
»Richtig – die Nürnberger Chronik. Ob die wohl noch am alten Platz steht? Wie ich mich recht erinnere, war sie hier am Fenster.«
Er führte sie zu einer Nische. Hier hatte die Feuchtigkeit verheerenden Schaden angerichtet, denn in dem nahen Fenster war eine Scheibe zerbrochen, durch die der Regen eindrang.
»Na, wo ist sie denn nur geblieben? Es war ein dickes Buch mit gepreßtem Ledereinband. Die alte Chronik möchte ich ganz gern mal wieder in die Hand nehmen. Ich habe sie ewig lange nicht mehr gesehen.«
Sein Blick glitt vage über die Borde. Wimsey mit dem Instinkt des Buchliebhabers war der erste, der die Chronik entdeckte. Er schob seine Finger hinter den Buchrücken, um das Buch herunterzuziehen. Als er jedoch spürte, daß das verrottete Leder bei der leisesten Berührung zerbröckelte, entfernte er ein benachbartes Buch und zog sie mit der ganzen Hand sanft heraus.
»Hier haben wir sie – leider in ziemlich schlechtem Zu stand. Nanu!«
Als er das Buch von der Wand zog, fiel ihm ein gefaltetes Stück Pergamentpapier zu Füßen. Er bückte sich und hob es auf.
»Sagen Sie mal, Burdock – ist dies nicht das Dokument, das Sie gesucht haben?«
Haviland Burdock, der auf einem der unteren Regale herumgewühlt hatte, richtete sich rasch auf. Sein Gesicht war vom Bücken rot angelaufen.
»Wahrhaftig!« rief er, wobei sein Gesicht vor Erregung zuerst noch roter und dann ganz blaß wurde. »Sieh mal, Winnie. Es ist das Testament. Wie merkwürdig! Wer hätte wohl daran gedacht, es ausgerechnet hier zu suchen?«
»Ist es wirklich das Testament?« rief Mrs. Hancock.
»Zweifellos«, bemerkte Wimsey kühl. »›Letzter Wille und Testament von Simon Burdock.‹« Er stand da und drehte das schmutzige Dokument in den Händen.
»Wie seltsam!« sagte Mr. Hancock. »Es ist beinahe wie eine göttliche Vorsehung, daß Sie das Buch herausgenommen haben.«
»Was steht denn drin?« fragte Mrs. Burdock etwas aufgeregt.
»Verzeihung«, sagte Wimsey und reichte ihr das Dokument. »Ja, wie Sie schon bemerkten, Mr. Hancock, es sieht tatsächlich so aus, als ob ich es finden sollte.« Er blickte wieder auf die Chronik und zeichnete voll Kummer mit dem Finger einen feuchten Fleck nach, der den Deckel verrottet, sich bis auf die inneren Seiten ausgedehnt und den Kolophon fast ausgelöscht hatte.
Haviland Burdock hatte unterdessen das Testament auf einem nebenstehenden Tisch ausgebreitet. Seine Frau blickte ihm über die Schulter. Die Hancocks, die ihre Neugierde kaum bezähmen konnten, standen dabei und warteten auf weitere Enthüllungen. Wimsey tat so, als ob ihn diese Familienangelegenheit nichts angehe
Weitere Kostenlose Bücher