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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain
Autoren: Anne Perry
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er hatte damals nicht die leiseste Ahnung gehabt, wer er war oder wo er sich befand. Seine Vergangenheit war ein vollkommen unbeschriebenes Blatt für ihn gewesen. Ja, er hatte nicht einmal sein Gesicht im Spiegel wiedererkannt.
    Ganz langsam nur war er in der Lage, hier und dort Bruchstücke zusammenzufügen, Szenen aus seiner Jugend, von seiner Fahrt von Northumberland aus nach Süden, nach London, bei der er wahrscheinlich neunzehn oder zwanzig Jahre alt gewesen war ungefähr zur Zeit des Regierungsantritts von Königin Viktoria, obwohl er sich auch daran nicht erinnern konnte. Die Krönung kannte er nur von Bildern und aus den Beschreibungen anderer Leute.
    Auch diese Dinge waren reine Vermutungen, und er konnte nur mutmaßen, daß er jetzt, im Januar 1859, Anfang Vierzig war.
    Es war natürlich absurd anzunehmen, daß Angus Stonefield sich in einer ähnlichen Situation befand. Solche Dinge waren mit Sicherheit extrem selten. Aber andererseits war auch Mord glücklicherweise kein alltägliches Ereignis. Viel wahrscheinlicher erschien es ihm, daß es sich in diesem Fall um ein trauriges, aber doch ganz gewöhnliches privates Vorkommnis oder ein finanzielles Unglück handelte.
    Solche Dinge eröffnete er einer Frau immer nur sehr ungern. In diesem Fall würde es noch schlimmer sein als gewöhnlich, denn er empfand bereits einen gewissen Respekt für sie. Sie war auf eine bezaubernde Weise feminin und besaß dennoch Willen und Mut, und trotz ihres Kummers und ihrer kaum verhohlenen Verzweiflung hatte sie sich mit keiner Silbe selbst bemitleidet. Sie hatte ihn um seine Dienste als Detektiv gebeten, nicht um sein Mitleid. Wenn Angus Stonefield sie wegen einer anderen Frau verlassen hatte, war er ein Mann, dessen Geschmack Monk weder verstand noch teilte.
    Während er noch über die ganze Angelegenheit nachdachte, erhob er sich, schürte das Feuer und stellte das Schutzgitter auf. Dann nahm er Mantel und Hut und fuhr mit einer Droschke, einem Hansom, von seiner Wohnung in der Fitzroy Street nach Süden, durch die Tottenham Court Road, die Charing Cross Road, den Strand und schließlich über die Waterloo Bridge zu der Geschäftsadresse auf der Karte, die Mrs. Stonefield ihm gegeben hatte. Er stieg aus, entlohnte und entließ den Kutscher. Dann warf er einen Blick auf das Gebäude. Von außen wirkte es dezent wie der Besitz eines wohlhabenden Mannes. Entweder hatte er es hier mit altem Vermögen zu tun, das es nicht nötig hatte, sich zur Schau zu stellen, oder mit erst jüngst erworbenem Geld, dessen Besitzer zu taktvoller Zurückhaltung neigte.
    Er drückte die Eingangstür auf, die für jedermann offenstand, und wurde von einem gewandten jungen Angestellten in einem Hemd mit steifen Klappenkragen, einem Cut und blitzblanken Stiefeln begrüßt.
    »Ja, Sir?« fragte der Angestellte, der aus Monks eleganter Kleidung sofort den Schluß zog, daß er es mit einem Gentleman zu tun haben mußte. »Womit kann ich Ihnen dienen?«
    Monk war zu stolz, um sich als Detektiv vorzustellen. Das hätte ihn mit dem Polizisten, der er gewesen war, bis er sich mit seinem Vorgesetzten zerstritten hatte, auf eine Stufe gestellt, ohne ihm die alten Befugnisse zurückzugeben.
    »Guten Morgen«, erwiderte er. »Mrs. Stonefield hat mich ersucht, ihr, soweit es in meinen Kräften steht, dabei behilflich zu sein herauszufinden, was aus ihrem Mann geworden ist, seit er vergangenen Dienstag von hier fortgegangen ist.« Er gestattete sich den Anflug eines Lächelns. »Ich hoffe, sie irrt sich, aber sie befürchtet, ihm könne etwas zugestoßen sein.« Während er sprach, holte er ihr Bevollmächtigungsschreiben aus der Tasche.
    Der Angestellte nahm es, überflog es kurz und gab es ihm dann zurück. Die Besorgnis, die er bisher im Zaum gehalten hatte, brach sich jetzt unverkennbar in seinen Zügen Bahn, und er sah Monk beinahe flehentlich an. »Ich wünschte, wir könnten Ihnen helfen, Sir. Ja wirklich, ich wünschte von ganzem Herzen, wir wüßten, wo er ist. Wir brauchen ihn dringend, um hier die Geschäfte weiterführen zu können. Seine Anwesenheit ist hier unabdingbar.« Seine Miene wurde noch ernster. »Es stehen Entscheidungen an, für die weder Mr. Arbuthnot noch ich die gesetzlichen Befugnisse oder auch nur die notwendige Sachkenntnis besitzen.« Er sah sich um, um sicherzustellen, daß keiner der drei jungen Buchhalter in Hörweite war, und trat einen Schritt näher. »Wir sind mit unserer Weisheit am Ende und wissen nicht, wie es
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