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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain
Autoren: Anne Perry
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Dank…«
    »Wenn Sie mir Ihre Adresse geben würden?« fragte er.
    Sie öffnete ihr Retikül und nahm zwei Karten heraus, die sie ihm reichte. »Ach, Sie werden sicher eine Vollmacht brauchen… Daran hatte ich bisher nicht gedacht…« Sie sah ihn verlegen an.
    »Hätten Sie wohl ein Blatt Papier…?«
    Er trat an seinen Schreibtisch, öffnete ihn und zog einen schlichten weißen Briefbogen, eine Schreibfeder, Tinte und Löschpapier heraus. Dann rückte er ihr einen Stuhl zurecht. Während sie schrieb, warf er einen Blick auf die Karten, die sie ihm gegeben hatte, und sah, daß ihr Haus direkt nördlich der Oxford Street lag, in der Nähe des Marble Arch, einer sehr akzeptablen Wohngegend, auch für vornehmere Ansprüche. Das Geschäft lag südlich des Flusses auf der Waterloo Road, am Rande von Lambeth.
    Sie beendete das Schreiben, unterschrieb es, drückte vorsichtig das Löschpapier auf das Blatt und hielt es ihm dann mit einem ängstlichen Blick hin.
    »Das ist genau richtig, vielen Dank«, sagte er, nachdem er das Schreiben gelesen hatte. Er faltete es zusammen, nahm einen Umschlag, legte es hinein, damit es nicht schmutzig wurde, und steckte es ein.
    Sie erhob sich. »Wann werden Sie anfangen?«
    »Sofort«, erwiderte er. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Mr. Stonefield könnte sich in Gefahr befinden oder in Schwierigkeiten sein, aber möglicherweise kann man ihm noch helfen.«
    »Meinen Sie?« Eine Sekunde lang flackerte Hoffnung in ihren Augen auf, dann kehrte die Wirklichkeit zurück und mit ihr neuer Schmerz. Sie wandte sich ab, um ihre Gefühle vor ihm zu verbergen, um ihnen beiden die Verlegenheit zu ersparen.
    »Vielen Dank, Mr. Monk. Ich weiß, Sie wollen mich nur trösten.« Sie ging zur Tür, und er mußte sich beeilen, um sie ihr noch öffnen zu können. »Ich warte dann auf eine Nachricht von Ihnen.« Sie ging hinaus und die Treppe hinunter auf die Straße, wo sie sich nach Norden wandte und, ohne sich noch einmal umzuschauen, davonging.
    Monk schloß die Tür und kehrte in sein Arbeitszimmer zurück. Er legte Kohle nach, setzte sich dann in seinen Sessel und dachte über das Problem und die einzelnen Umstände, soweit sie ihm bekannt waren, nach. Es war nichts Ungewöhnliches, daß ein Mann Frau und Kinder verließ. Alles mögliche war denkbar, auch ohne in Erwägung zu ziehen, daß dem Mann etwas zugestoßen sein könnte - ganz zu schweigen von einem so abwegigen und tragischen Gedanken, daß er möglicherweise von seinem eigenen Bruder getötet worden war. Aber genau das war es, was Mrs. Stonefield glauben wollte. Monk dachte bei sich, daß diese Lösung ihr wohl am wenigsten furchtbar erschien. Ohne diese Möglichkeit sofort von der Hand zu weisen, neigte er jedoch dazu, sie ganz unten auf seine Liste zu setzen. Die offensichtlichsten Lösungen waren die, daß ihm entweder seine Verantwortung zuviel geworden und er davongelaufen war oder daß er sich in eine andere Frau verliebt und beschlossen hatte, in Zukunft mit ihr zusammenzuleben. Die nächste denkbare Möglichkeit war dann irgendeine finanzielle Katastrophe, die sich entweder schon ereignet hatte oder doch in naher Zukunft bevorstand. Vielleicht hatte er gespielt und dabei mehr verloren, als er aufbringen konnte, oder sich Geld bei einem Wucherer geliehen, dem er die Zinsen nicht zurückzahlen konnte; so daß sie von Tag zu Tag anwuchsen. Monk hatte mehr als ein Opfer dieser Halsabschneider gesehen, und er empfand einen unerbittlichen Haß auf alle Geldverleiher.
    Stonefield konnte sich auch einen Feind gemacht haben, den zu fürchten er guten Grund hatte, oder er war wegen einer Indiskretion, möglicherweise sogar wegen eines Verbrechens, das Opfer einer Erpressung geworden. Vielleicht war er aber auch wegen einer Unterschlagung, die noch nicht ans Tageslicht gekommen war, auf der Flucht vor dem Gesetz, oder eines anderen Vergehens, eines von ihm verschuldeten Unfalls oder einer plötzlichen Gewalttat, derer man ihn bisher noch nicht verdächtigt hatte.
    Er konnte sogar selbst einen Unfall erlitten haben und in irgendeinem Krankenhaus oder Armenhaus liegen, in einem Zustand, der es ihm unmöglich machte, seine Familie zu benachrichtigen.
    Es war auch denkbar, daß er - wie es Monk selbst einmal ergangen war - einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen und das Gedächtnis verloren hatte. Monk brach der kalte Schweiß aus, als er sich daran erinnerte, wie er vor zwei Jahren an einem Ort aufgewacht war, den er für ein Armenhaus hielt;
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