Sehnsuchtsland
hinüber zum Gästehaus. Es war auf nette, typisch ländliche Art eingerichtet, mit hell gebeizten Holzmöbeln, bunten Knüpfteppichen und Leinenvorhängen. Das Zimmer, in dem Emma untergebracht war, stellte sich als echter Jungmädchentraum heraus, mit einem veritablen Himmelbett, rosa geblümter Bettwäsche und dazu passenden Rüschengardinen.
Amüsiert sah Magnus zu, wie seine Tochter sich rücklings auf das Bett fallen ließ. »Ich fühle mich wie eine Prinzessin«, kicherte sie.
Ingrid hörte, was Emma sagte. Sie kam hinter Magnus ins Zimmer, einen Stapel frischer weißer Handtücher im Arm.
»Na, dann träum mal was Schönes«, sagte sie gut gelaunt. An Magnus gewandt, fügte sie hinzu: »Brauchen Sie noch was?«
»Danke, es ist perfekt. Oder, Emma?«
»Wenn ich morgen reiten darf — superperfekt«, murmelte Emma, die mit geschlossenen Augen auf dem Bett lag.
Magnus folgte seiner Gastgeberin nach draußen.
»Ach, Ingrid, Moment noch.« Er räusperte sich und kam sich plötzlich entsetzlich dämlich vor. Doch jetzt hatte er damit angefangen und würde es auch zu Ende führen. »Haben Sie... Haben Sie zurzeit noch andere Gäste? Ich meine... Ich wollte nur wissen...« Er brach ab, in der sicheren Gewissheit, sich bis auf die Knochen blamiert zu haben.
Falls Ingrid belustigt war, ließ sie es sich nicht anmerken. »Keine zahlenden Gäste außer Ihnen«, sagte sie sachlich. »Aber meine Schwester ist da. Lena.«
Magnus nickte lässig und tat so, als interessiere ihn das nicht sonderlich. Aber in Wahrheit konnte er es kaum erwarten, besagte Schwester wiederzusehen.
*
Lena sattelte gerade vor den Boxen das Pferd ab, als ihr Vater in den Stall kam. Mit der gesunden Hand trug er einen Eimer voller Apfel, den er zwischen den Heuballen abstellte.
Sie lächelte ihn ein wenig reumütig an. »Ihr seid schon mit dem Essen fertig, stimmt’s ? Tut mir Leid, ich habe einfach am See die Zeit vergessen.«
»Du hast schon immer gerne geträumt.« Björn hielt inne, als müsse er zuerst überlegen, wie er seine nächsten Worte formulieren sollte. »Ich frage mich manchmal, wie du das in deinem Beruf machst«, meinte er schließlich. »Stewardessen müssen doch pünktlich sein.«
»Du wirst lachen, aber ich habe in zehn Jahren nicht einmal meinen Flieger verpasst.«
Björn nahm einen Apfel aus dem Eimer und hielt ihn dem Pferd hin, ohne Lena aus den Augen zu lassen. »Als du damals weggegangen bist...« Er hielt inne, und in seinen Augen standen mehr Fragen, als Lena ertragen konnte. Sie schaute geflissentlich weg und gab vor, sich intensiv um das Pferd zu kümmern.
»Ich hätte nicht gedacht, dass es so lange dauern wird, bis du wieder zurückkommst«, fuhr Björn mit schwerer Stimme fort. »Zehn Jahre... «
»Es hat sich einfach nicht ergeben«, sagte Lena mit aufgesetzter Leichtigkeit, während sie die Sattelgurte löste. »Mein Leben spielt sich woanders ab.«
Björn war abwartend stehen geblieben, so, als sei ihm das, was sie zur Erklärung vorgebracht hatte, bei weitem nicht genug.
»Ich habe einen Beruf, Papa«, sagte Lena. Sie merkte selbst, dass ihre Worte eher wie eine Schutzbehauptung als eine Rechtfertigung klangen. Mit leiser Gereiztheit setzte sie hinzu: »Ich kann nicht einfach wochenlang Urlaub machen.«
»Jedenfalls nicht hier, oder?« Björn suchte ihren Blick. »Du glaubst wirklich, man kann seine Wurzeln kappen? Einfach so?«
Lena verschränkte beide Arme vor der Brust, sie umklammerte ihren Oberkörper, als wäre ihr kalt. »Wenn es nötig ist fürs Überleben — ja«, entgegnete sie mit abgewandtem Gesicht. Mit einem Mal spürte sie, dass sie Kopfschmerzen bekam. Ihr Tag war zu lang gewesen, zu viel war heute auf sie eingestürmt. Sie war verrückt, wenn sie glaubte, wie im Zeitraffer leben zu können. Zuerst der Nachtflug, dann die weite Fahrt, Schwimmen, Reiten... Kein Wunder, dass sie allmählich Ausfallerscheinungen zeigte.
»Du machst dir was vor, Lena. Lösen kannst du dich von den Gespenstern deiner Vergangenheit erst, wenn du nicht mehr vor ihnen davonläufst, sondern dich ihnen stellst.«
Lena starrte ihren Vater an. Mit der Anklage und dem Kummer in seinen Augen konnte sie vielleicht fertig werden. Aber nicht mit den Erinnerungen, die sie von innen heraus auffraßen.
»Du hast gut reden, Papa«, sagte sie mit lauter, harter Stimme. »Du musst ja auch nicht mit meiner Schuld leben.«
Ohne ein weiteres Wort ließ sie ihn vor der Box stehen und rannte quer über den Hof
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