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Sehnsucht

Sehnsucht

Titel: Sehnsucht
Autoren: Wolfgang R. Hantel-Quitmann
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aus. Ja, die Phantasieproduktion wird durch die Liebe auf geradezu berauschende Weise angeregt. Beide Partner können sich durch die Stimulation ihrer Phantasie gegenseitig zu wahren Höhenflügen der Liebe herausfordern. Was aber passiert mit den Gefühlen und Phantasien, wenn die Antwort des Geliebten ausbleibt? Wenn die Liebe eine einseitige ist? Oder wenn der andere nicht antworten kann, weil er gar nichts davon weiß? Wie lange und wie stark kann eine Phantasie in einer Person bestehen bleiben, ohne beantwortet zu werden? Wird dann die Sehnsucht ins Unendliche gesteigert oder gibt sie irgendwann auf?
    Stellen Sie sich einmal vor, Ihr Partner würde im Gefängnis sitzen und wäre zu zwei Mal lebenslänglich verurteilt. Sie könnten Briefe schreiben, die alle zensiert und daher zum Teil nicht durchgelassen würden, und sie würden aus dem gleichen Grund nur sehr selten eine Antwort bekommen. Wie lange würden Sie diese Liebe erhalten können? Wie lange würden Sie dennoch Briefe schreiben? Wie lange würden Sie den Menschen im Gefängnis als Ihren Partner ansehen? Als den einzig wahren? Ist es eine Frage, wie stark die Liebe ist? Reicht das Gefühl der Liebe und könnten Sie die fehlende Beziehungswirklichkeit allein durch Ihre Phantasie ersetzen? Es gibt eine Liebesgeschichte in Briefen, die darauf eine Antwort gibt. 3
    Die Macht der Sehnsucht
    Xavier ist als politischer Häftling zu zwei Mal lebenslänglich verurteilt worden und seine Geliebte Aida schreibt ihm regelmäßig Briefe ins Gefängnis. Sie schreibt ihn in phantasievoller Weise an: Mein Erdlöwe , Mi Guapo , Habibi , Mi Soplete , mein Kanadim , Ya Nour , Hayati oder einfach mein Schweißer . Sie berichtet aus ihrem alltäglichen Leben, lässt ihn aber nicht nur an den Belanglosigkeiten, Begegnungen und Problemen teilhaben, sondern vorallem an ihrer Intimität, an ihren Gedanken, Gefühlen, Ängsten und Lebensfragen. Und aus allen Briefzeilen klingt die feste Überzeugung heraus, dass sie sich eines Tages wiedersehen werden. Sie ist sich sicher, dass sie ihre Liebe wieder gemeinsam leben werden, und bis dahin hat sie anscheinend beschlossen, die Zeit mit ihrer Phantasie und den Briefen zu füllen. So schreibt sie:
    Mi Guapo,
    als kleines Mädchen besaß ich eine Federsammlung. Fast zweihundert Stück von siebenundzwanzig Arten. Für jeden Vogel ein eigener Umschlag. Wir haben nie oft über unsere Kindheit gesprochen, stimmt’s? Ich freue mich darauf, dass wir das tun werden, inshallah. Wenn Menschen sich verlieben, sprechen sie immer gern über die Kindheit, aber wir taten das nie. Warum, meinst du? Ich denke, ich weiß es, aber ich finde nicht die richtigen Worte. Doch wenn du entlassen wirst, werde ich sie finden. 4
    Er wird niemals entlassen werden, es sei denn, es geschieht ein Wunder, wie eine Generalamnestie. Insofern hat ihre Phantasie etwas Trotziges und Stolzes. Sie verweigert der Realität die Anerkennung, setzt sie willentlich außer Kraft und an ihre Stelle eine Sehnsucht. Das ist eine starke Haltung, wirft aber die Frage auf, wie sie in den Momenten des Zweifels mit ihrer ausweglosen Lebenssituation umgeht. Was macht der Zweifel mit der trotzigen Phantasie?
    Auch er weiß von der Ausweglosigkeit und der Perspektivlosigkeit ihrer Beziehung, aber er ist in einer anderen Situation. Zum einen hat er als Gefangener keine Alternative zu dieser Liebesbeziehung. Zum anderen kann er ihr nicht offen antworten, weil seine Briefe von der Gefängnisleitung nicht nur kontrolliert, sondern im Zweifelsfall auch zurückgehalten werden. Also schreibt er in Bildern, Anekdoten, kleinen Geschichten oder Anspielungen, die nur sie versteht. So benutzt er ihre gemeinsameIntimität, die in den Jahren vor seinem Gefängnisaufenthalt entstanden ist zur geheimen Verständigung und verstärkt damit zugleich diese Intimität. Intimität bedeutet, dass ein Text symbolisch zu lesen ist. So wird der folgende Text von Aida wahrscheinlich ganz anders gelesen und verstanden als von allen anderen. In dieser Intimität liegt die Stärke ihrer Beziehung und ihrer Sehnsucht.
    Traum: Das Universum lag vor mir wie ein offenes Buch. Ich schaute hinein. Die rechte obere Ecke der rechten Seite war eingeschlagen, ein Lesezeichen. Und auf dem schmalen Dreieck des gefalteten Papiers war das Geheimnis der Materie notiert – es war so elegant und bündig wie ein Fraktal.
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