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Sehnsucht

Sehnsucht

Titel: Sehnsucht
Autoren: Wolfgang R. Hantel-Quitmann
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sprachen, kam ihnen eine alte Sehnsucht in den Sinn: einmal gemeinsam für mehrere Wochen mit einem Motorrad durch Südfrankreich zu fahren. Es sollte eine nachgeholte Hochzeitsreise sein, die sie nie gemacht hatten. Da für die Paartherapie und die Reise das Geld nicht reichte, mussten sie sich entscheiden: Entweder wir gönnen uns eine richtig vertiefte Paartherapie oder wir erfüllen uns einen alten Traum. Sie haben mir dann berichtet, dass sie sich für die Motorradfahrt durch Südfrankreich entschieden haben. Ich glaube, sie haben sich richtig entschieden, ich habe bis heute nichts mehr von ihnen gehört – und das ist aus therapeutischer Sicht immer ein gutes Zeichen.
    Die Ohnmacht der Sehnsucht
    Sehnsucht hat eine ohnmächtige Seite, obwohl diese von den Sehnsüchtigen gern ignoriert oder gering geschätzt wird. Denn der Schmerz und die Bitterkeit über die Ausweglosigkeit gehören zur Sehnsucht dazu, sie sind ein elementarer Teil von ihr. Man kann dieser Ausweglosigkeit nachgeben und darauf warten, dass die Sehnsucht langsam und schadlos vorbei geht, oder man kann die Kraft der Sehnsucht nutzen, um das Unmögliche eben doch möglich zu machen.
    Allerdings stellt sich eine solche Frage selten als eine bewusste Entscheidung auf der Grundlage einer rationalen Abwägung. Nur bei psychisch gesunden und selbstreflexiven Menschen oder im Rahmen von Therapien geschieht dies vielleicht. In den meisten Fällen des Alltags werden diese Entscheidungen wohl eher aus dem Bauchgefühl heraus getroffen, also in der Regel unbewusst.
    Ian MacEwan hat in seinem Buch Am Strand die Geschichte eines Paares beschrieben, das mit der Sehnsucht den Kampf gegen die Vergangenheit aufgenommen hat, allerdings ohne dies zu wissen. Anscheinend hatte sich Florence unbewusst vorgenommen, mithilfe ihrer Sehnsucht nach einer Liebesbeziehung, glücklichen Ehe und harmonischen Familie zu beweisen, dass ihre frühen Erfahrungen dies nicht verhindern können. Florence war von ihrem Vater sexuell missbraucht worden und hatte diese Erfahrungen dissoziiert, sozusagen ihrer Erinnerung entzogen. Sie wusste nichts mehr davon, und sie wäre nie darauf gekommen, dass ihre tiefe Abneigung gegen alles Sexuelle damit zusammenhängen könnte. Denn sie liebte ihren Vater.
    Florence und Edward hatten geheiratet und sich noch in derHochzeitsnacht endgültig getrennt – und danach nie wiedergesehen. Florence hatte den tiefen Ekel vor einem sexuellen Kontakt mit ihrer Sehnsucht nicht überwinden können. Edward wusste von alledem nichts, er war ein verklemmter junger Mann, der es respektiert hatte, dass Florence vor der Ehe keinen Sex wollte. Aber in Edward brodelte es:
    Seit mehr als einem Jahr war Edward von dem Gedanken daran wie benommen, dass der empfindlichste Teil seiner selbst an einem bestimmten Tag im Juli für eine gewisse Zeit, und sei sie noch so kurz, in der natürlichen Höhlung dieser fröhlichen, liebenswerten und so außerordentlich intelligenten Frau weilen würde. Die Frage, wie dies ohne Enttäuschungen oder Peinlichkeiten zu bewerkstelligen war, ließ ihm keine Ruhe. 10
    Er war sexuell unerfahren und ging davon aus, dass er der Grund der nahenden Katastrophe in der Hochzeitsnacht sein würde. Aber da wusste er noch nichts von Florence’s Ekel und dessen Hintergründen, die nicht erinnert werden konnten.
    Florence wurde von ihrer Mutter emotional vernachlässigt, so dass der Vater mit seiner sexualisierten Zuwendung nicht zurückgewiesen werden konnte. Sie beschreibt ihre Mutter als unkörperlich, von ihr kannte sie keine Umarmung, keinen Kuss, nicht einmal eine zärtliche Berührung. Dagegen hatte ihr Vater sie immer auf seine Geschäftsreisen mitgenommen, bei denen sie im selben Hotelzimmer übernachteten.
    Als sie mit Edward ihre Hochzeitsnacht in dem Hotel am Strand feiern will passiert es, dass ein Geruch die verdrängten Gefühle aktualisiert:
    Und dann drängte sich die Vergangenheit, die so undeutlich erinnerte Vergangenheit, doch noch zu ihr vor. Es war der Meergeruch, der alles heraufbeschwor. Sie war zwölf Jahre alt, lag reglos wie jetzt, wartete nackt und zitternd in einer schmalen Koje aus lackiertemMahagoni. Ihr Kopf war leer; sie fühlte, dass sie Schande über sich brachte … Es war spät am Abend, und ihr Vater zog sich im Zwielicht der engen Kabine aus, genau wie Edward es gerade tat. 11
    Sie hatte
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