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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
Autoren: Karen Winter
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der richtige Augenblick dafür kommt erst noch.«
    »Wofür willst du mich bestrafen?«
    »Pah!«, rief Constanze aus. »Das weißt du nicht? Dann wirst du es auch nie begreifen.« Sie duckte sich in ihren Stuhl, kniff die Augen zusammen und lächelte listig. »Mörderin!«, zischte sie. »Du bist eine Mörderin!«
    Malu schloss die Augen. Es tat ihr weh, Constanze so zu sehen. Jedes einzelne Wort tat ihr weh.
    Trotzdem streckte sie die Hand nach der Freundin aus.
    »Ich bin gekommen, um dich zu holen. Du sollst mit mir nach Riga kommen. Du kannst in meinem Haus leben, deine Tochter aufwachsen sehen. Ich sorge für dich.«
    Kaum hatte Malu diese Worte ausgesprochen, sprang Constanze auf und blickte wild um sich. »Du willst mich entführen? Ich soll mitkommen, damit du mich weiter demütigen kannst? Du willst mich stehlen, meinen Körper stehlen, so wie du schon meine Seele gestohlen hast?«
    Malu schüttelte den Kopf. Sie war mit einem Mal so kraftlos und erschöpft, als wäre sie den ganzen Tag gelaufen. »Nein«, widersprach sie schwach. »Du kannst tun und lassen, was du willst. Wenn du nicht mit mir kommen möchtest, dann brauchst du es auch nicht zu tun.«
    Constanze war noch immer sehr aufgewühlt. Sie deutete mit der Hand auf Malu und schrie, als hätte sie deren letzte Worte nicht gehört: »Bist du der Teufel in Person? Bist du gekommen, um mich in die Hölle zu holen? Weißt du nicht, dass mein Leben eine einzige Hölle war?«
    Isabel stand auf und legte den Arm um Constanzes Schultern. »Pscht«, sagte sie. »Sei ganz ruhig. Es ist alles gut.«
    Aber Constanze ließ sich nicht beruhigen. Sie riss sich aus der Umarmung und begann, auf Isabel einzuschlagen. »Du bist ihre Gehilfin. Ich wusste es schon immer. Des Teufels Gehilfin.«
    Isabel hob die Arme, um ihr Gesicht zu schützen. In diesem Augenblick rannte Constanze los. Sie raffte mit beiden Händen ihr Kleid und rannte davon, ohne zu sehen, wohin sie lief.
    »Wir müssen ihr nach.« Isabel raffte ebenfalls ihren Rock und stürzte hinterher.
    Malu aber blieb sitzen. Was nützt das denn?, dachte sie. Constanze läuft vor mir davon. Welches Recht habe ich, sie zurückzuholen?
    Als der Schrei und das grässliche Krachen ertönten, barg Malu den Kopf auf ihrer Brust und hielt sich die Ohren zu. Sie dachte nichts, sie fühlte nichts in diesem Augenblick und wusste doch alles. »Mörderin!«, hallte Constanzes Stimme in ihrem Ohr. »Mörderin!«
    Dann verlor Malu das Bewusstsein.
    Als sie wieder zu sich kam, fand sie sich in einem hellen Zimmer auf einer Liege wieder. Isabel saß neben ihr und blickte sie besorgt an. Im Hintergrund hantierte der Arzt; er zog eine Spritze auf. Als hätte er gespürt, dass Malu erwacht war, wandte er sich um und sah sie entschuldigend an.
    »Sie ist tot, nicht wahr?« Malu wunderte sich, dass ihre Stimme so rau klang.
    Der Arzt nickte. »Wir konnten nichts mehr für sie tun. Sie hat sich vor den Lastkraftwagen geworfen, der unsere Küche beliefert.«
    Malu nickte. Sie fühlte heiße Tränen über ihre Wangen rollen. Der Arzt sah es und setzte sich auf die Kante der Liege.
    »Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte er leise. »Sie war eine graue Seele. Ihr war nicht zu helfen. Quälen Sie sich nicht mit einem schlechten Gewissen. Sie können nichts dafür. Soweit ich weiß, haben Sie alles für Sie getan. Sie haben ihre Tochter aufgenommen, haben die Klinik für sie bezahlt. Sie haben mehr getan als jeder andere.«
    »Aber vielleicht war es nicht das Richtige«, murmelte Malu und schloss die Augen. »Vielleicht nicht das Richtige.«

Siebenunddreißigstes Kapitel
    Brandenburg, 1926
    D er Arzt hatte empfohlen, Malu über Nacht zur Beobachtung dazubehalten. Isabel würde sie am nächsten Vormittag abholen.
    »Wenn Sie mich brauchen, ich bin für Sie da«, hatte der Arzt gesagt und ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. »Es ist ein schwieriger Schritt, sich selbst von Schuld loszusprechen.«
    Malu hatte ihm in die Augen gesehen. »Das weiß ich. Glauben Sie mir, das weiß ich besser als jede andere.« Und dann war sie in den Pavillon gegangen.
    Nun saß sie in Constanzes Stuhl, lehnte ihren Kopf an das Kissen und glaubte für einen Moment, Constanzes Geruch darin zu vernehmen.
    Sie ist tot, dachte Malu. Sie ist tot. Sie ist tot. Sie ist tot. Sie glaubte, wenn sie diesen Satz immer wieder aufs Neue denken würde, dann käme irgendwann der Schmerz über den Verlust der Freundin. Aber da war kein Schmerz, nur Traurigkeit, die keine Tränen
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