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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
Autoren: Karen Winter
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überrascht mich das nicht?, überlegte Malu. Er hat die Mutter um alles gebracht, was sie je hatte. Er hat mich um einiges gebracht. Er war schon immer so. Seit er ein kleiner Junge war.
    Sie dachte, zum ersten Mal seit vielen Jahren, an jenen Nachmittag zurück, als ihr Schicksal eine so entscheidende Wendung nehmen sollte. Sie sah sich wieder als kleines Mädchen im Zimmer mit Ruppert und der alten Tante, die in einem nach hinten geklappten Lehnstuhl lag und schlief.
    Sie hörte zwei Dienstmädchen auf dem Gang tuscheln. Die eine sagte: »Es ist ein Jammer mit der alten gnädigen Frau. Sie vegetiert nur noch dahin.«
    Und die andere erwiderte: »Recht hast du. So ohne Würde zu leben ist das Schlimmste, was einem zustoßen kann. Mit den Tieren ist man gnädiger als mit den Menschen. Ihnen gibt man den Gnadenschuss.«
    Und Malu sah Ruppert neben sich, der sie angrinste. »Sollen wir die Tante erlösen?«, schlug er vor. »Sollen wir ihr den Gnadenschuss geben?«
    »Was ist ein Gnadenschuss?«, hörte sie sich selbst fragen.
    »Es ist etwas, womit die Menschen früher in den Himmel kommen.«
    Und die kleine Malu hatte genickt und sich den Daumen in den Mund geschoben.
    »Wollen wir?«
    Malu schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob wir das dürfen. Wir sollten die Kinderfrau fragen.«
    Ruppert machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, die Marenka ist dumm wie die Nacht dunkel. Sie versteht nichts von solchen Dingen. Es wird Zeit, dass die Tante geht. Sie stöhnt und röchelt, und wenn sie vergisst, ihre Zähnen in den Mund zu stecken, dann schaut sie aus wie eine alte Hexe. Glaub mir, Malu, wir würden allen hier auf dem Gut einen Gefallen tun.«
    Malu hatte etwas in Rupperts Stimme gehört, das ihr nicht gefiel. Sie ging einen Schritt zurück.
    »Also, ich tue es jetzt«, verkündete Ruppert.
    Da nahm Malu den Daumen aus dem Mund. »Das kannst du gar nicht. Du hast ja gar keine Pistole und kein Gewehr. Du kannst die Tante nicht erschießen.« Sie war so froh gewesen, als ihr das eingefallen war.
    »Und ob ich das kann, du dumme Gans!«, herrschte Ruppert sie an. Und dann kramte er in seinem Spielzeug herum und suchte so lange, bis er seinen Katapult gefunden hatte.
    Malu schüttelte sich. Die Erinnerung schmerzte noch immer. Und Ruppert hatte sich nicht gebessert. Er war in einer adligen Familie groß geworden und im Krieg Offizier gewesen, doch ihm fehlten sämtliche Charakterzüge, die ein Edelmann oder jemand haben sollte, dessen Aufgabe es war, andere Menschen zu führen. Sie wusste, dass er ihre Musterbücher gestohlen hatte. Sie wusste, dass er Constanze loswerden wollte. Sie wusste auch, dass er sich niemals um Viola kümmern würde. Niemals. Nur eines wusste sie noch nicht: wie sie Ruppert aus ihrem Herzen tilgen sollte. Ruppert, den Bruder, der niemals ein Bruder gewesen war.
    Malu seufzte. Sie starrte in die Strudel, hörte das Wasser nach ihr rufen. Mit aller Kraft stieß sie sich vom Brückengeländer ab und rannte davon.
    Malu konnte nicht warten, bis David am Abend nach Hause kommen würde. Sie begab sich auf direktem Wege in seine Praxis, öffnete die Tür zum Behandlungszimmer und erklärte, sie müsse sofort mit ihm reden. Er bat sie, kurz zu warten, bis er die Untersuchung beendet hätte. Kaum hatte der Patient den Raum verlassen, stürzte Malu ins Zimmer.
    David sah sie erstaunt an. »Was ist los mit dir?«, fragte er. »Du bist ganz aufgewühlt.«
    »Ich muss nach Berlin«, erwiderte Malu. »Ruppert steckt höchstwahrscheinlich hinter den gefälschten Kleidern. Ich muss dorthin, muss so vieles klären, muss mich auch um Constanze kümmern. Bitte, ich weiß, dass der Zeitpunkt nicht gerade günstig ist, aber lass mich nach Berlin fahren. Ich muss es tun! Es ist wichtig für mich. Für mein Leben, für unser Leben.«
    David schwieg und kratzte sich gedankenverloren am Kinn. »Weißt du, was eine Reise nach Berlin in dieser Zeit bedeutet?«, fragte er.
    Malu schüttelte den Kopf. »Ich muss dahin.«
    »Die Nationalsozialisten bekommen immer mehr Mitglieder. Nicht mehr lange, dann werden es hunderttausend sein. Du trägst einen jüdischen Namen.«
    »Ich weiß, aber noch haben diese Hitlergetreuen nichts zu sagen. Deutschland wird von der Zentrumspartei und anderen bürgerlichen Parteien regiert. Ich habe dort nichts zu befürchten.«
    »Es gibt über zwei Millionen Arbeitslose. Viele haben ihr Hab und Gut in der Zeit der großen Inflation verloren. Sie sind unzufrieden und suchen nach einem
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