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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter
Autoren: Laura Whitcomb
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zu ruhen.
    Während die Mädchen im stillen Gebet die Köpfe neigten, erhob sich der Seelenhüter, und diese eigentlich unsichtbare Bewegung lenkte den Blick der jüngsten Schwester ab. Sie durchsuchte die Luft neben dem Bett ihres Bruders, blickte in die Schatten, die das Mondlicht, das durch die Fenster hereindrang, nicht erreichte, und sah Calder schließlich geradewegs in die Augen.
    Das Mädchen stieß keinen Ausruf des Erschreckens aus – es schien nicht im Geringsten überrascht, auch wenn es ihn ganz offensichtlich sehen konnte. Als sie eine Augenbraue hob, wusste er, wer sie war: das kleine, elfenhafte Mädchen vom Tag zuvor.
    Noch nie hatte ihn ein Kind wahrgenommen, das älter als vier Jahre war. Dieses Mädchen hatte etwas von einer Katze oder einem Vogel. Ihre Schwestern verfügten nicht über diese Gabe, denn sie beteten still mit gefalteten Händen weiter. Calder runzelte die Stirn und wollte die Kleine mental dazu zwingen, den Blick von ihm abzuwenden, doch erfolglos.
    Er flüsterte: »Ich bin nicht hier.«
    Sie senkte den Kopf im Gebet.
    Nun wandte er sich Glory zu, die ihre gesamte Aufmerksamkeit dem Jungen widmete. Überrascht stellte er fest, dass ihn der Sterbende betrachtete. Es kam sehr selten vor, dass Menschen ihre Begleiter wahrnahmen, bevor sie ihren Körper verließen. Sie sahen ihn oft als Engel oder in der Gestalt von toten Freunden oder Verwandten. Von Zeit zu Zeit hielt eine Seele, die meist voller Bedauern war, ihn fälschlicherweise für einen Menschen, dem sie Unrecht getan hatte, oder für einen Diener des Teufels, der sie in den Hades hinabziehen wollte.
    Calder fragte sich, in welcher Gestalt er diesem sterbenden Kind wohl erschien. Die Augen des Jungen waren zusammengekniffen, fast geschlossen, und glasig vor Schmerz. Das Blut des Kindes war krank, denn es konnte nicht aufhören zu fließen, sobald es aus einer Vene austrat. Sei es durch einen Schnitt in den Finger von einem Zinnsoldaten oder durch einen inneren Riss von einem Sturz auf dem Rasen, der Blutfluss war nicht zu stoppen und verursachte Schwellungen, Fehlbildungen und heftige Schmerzen.
    Calder verspürte Mitgefühl mit dem Jungen, doch es gab noch einen wichtigen Grund, warum er an diesem Schauplatz war. Er beobachtete, wie Glory die Hand des Kindes streichelte, und machte einen Schritt auf das Bett zu.
    »Kannst du mich hören?«, flüsterte er ihr zu.
    Glory setzte sich auf und schlang die Arme um den Oberkörper, als sei ihr kalt.
    »Hab keine Angst«, sagte Calder.
    Glory starrte ihn an, oder zumindest seine Schulter, weshalb er sich ein Stück nach links bewegte, bis sich sein Gesicht in ihrem Blickfeld befand. Ihre Augen zuckten, dessen war er sich sicher, doch als der Junge stöhnte, wandte sie sich wieder ihm zu.
    Die Luft begann sich zu verändern – der Junge würde sich bald entscheiden, ob er weiterlebte oder starb. Auch wenn er immer noch vollkommen in seinem Körper gefangen war, hob er die Hand, die Calder am nächsten war, und streckte sie ihm entgegen. Noch etwas, das höchst selten geschah. Die bleichen Finger schwebten zitternd über dem gequilteten Bettüberwurf, wenige Zentimeter von Calders Hand entfernt.
    »Ich will sterben«, flüsterte der Junge.
    Rasch drängte Glory die Mädchen aus dem Raum. Die drei älteren Schwestern entfernten sich schnell, nur die jüngste verharrte kurz in der Türöffnung und bedachte Calder mit einem warnenden Blick, bevor sie davoneilte. Glory nahm ein feuchtes Tuch aus einer Schüssel unter der Lampe neben ihr und legte es dem Jungen auf die Stirn.
    Die Entscheidung war gefallen, doch der Geisterwind brauste um das Bett. Es trat keine plötzliche Ruhe ein.
    »Nicht«, flüsterte Calder dem Jungen zu. Als er die Überraschung im Gesicht des Kindes aufblitzen sah, wusste er, dass es ihn gehört hatte. Der dünne Arm fiel auf das Bett zurück, doch die Aufmerksamkeit des Jungen war auf seinen Begleiter gerichtet.
    Der Seelenhüter lehnte sich dicht zu ihm. »Sie will, dass du lebst.« Zuerst bemerkte er nicht, worum er da bat.
    »Hilf mir«, flüsterte der Junge.
    Nun konnte Calder die Qualen hören. Die Stimme des Kindes war heiser vom Schreien – seine Schmerzen mussten in Schüben kommen, momentan war ihm nur eine Atempause vergönnt.
Es wird ihm bald wieder gutgehen,
sagte sich Calder,
er wird sich eines langen Lebens erfreuen.
    Der Schlüssel an seiner Brust vibrierte leise warnend, doch er ignorierte es. »Lebe für sie«, flüsterte er, und die Luft
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