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Seelengrab (German Edition)

Seelengrab (German Edition)

Titel: Seelengrab (German Edition)
Autoren: Nadine Buranaseda
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seines Vaters derartige Gedächtnislücken einschloss. Bevor er darüber nicht mit Professor Konrad gesprochen hatte, würde er auf diesen Punkt nicht näher eingehen. Denn er wollte sich lieber nicht ausmalen, wie sein Vater reagierte, wenn er ihn erneut mit dem Tod seiner Frau konfrontierte.
    „Aber wahrscheinlich ist sie mal wieder zu sehr mit ihren lieben kleinen Schülern beschäftigt. Das wäre ja nichts Neues.“
    Obwohl seine Mutter tot war, traf ihn der Seitenhieb seines Vaters. Sie hatte sich nie beklagt, selbst dann nicht, als sie ihr altes Leben in Berlin aufgeben musste. Ihr Egoismus vorzuwerfen glich einem Meineid.
    „Mach dir keine Gedanken: Ich werde mich die nächste Zeit um dich kümmern, Vater.“
    „So?“
    Heinrich Hirschfeld drehte zum ersten Mal den Kopf und schaute seinen Sohn direkt an. Lutz bemerkte erst jetzt, dass die Augen seines Vaters tief in ihre Höhlen zurückgetreten waren. Sein Blick wanderte unstetig hin und her, bevor er sich abwandte und wieder aus dem Fenster sah.
    Draußen hatte es aufgehört zu schneien. Hirschfeld fragte sich, wie lange der Schnee wohl liegen bleiben würde.
    „Brauchst du irgendetwas?“
    „Mhm.“
    „Du kannst es mir ruhig sagen.“
    „Das Essen schmeckt abscheulich“, antwortete sein Vater missmutig. „Außerdem gibt es hier natürlich nichts Ordentliches zu trinken. Ich bekomme den ganzen Tag nur Tee, Tee und nochmals Tee. Bei dem Geld, das ich der Krankenkasse jeden Monat in den Rachen werfe, könnte ich wohl etwas Besseres erwarten, oder?“
    Ganz der Alte, dachte Hirschfeld, und war sich gleichzeitig bewusst, dass dieser Eindruck täuschte.
    „Ich werde sehen, was ich in dieser Hinsicht für dich tun kann.“
    „Gut, aber lass dir nicht allzu viel Zeit damit.“
    Hirschfeld nickte knapp.
    „Was macht die Arbeit?“
    „Ich habe gerade Urlaub“, antwortete er und verschwieg, dass er seinen ersten Dienst in Bonn bereits am Montag antrat.
    Hirschfeld wollte sich noch ein wenig Zeit lassen, bevor er seinem Vater von seinem Umzug in die ehemalige Bundeshauptstadt erzählte. In den letzten Tagen war er nicht dazu gekommen, sich darüber Gedanken zu machen, auf welche Art und Weise er es ihm mitteilen würde.
    „Wie? Nicht auf Verbrecherjagd? So einen Luxus möchte ich auch mal haben.“
    Die letzten Jahre straften die Worte seines Vaters Lügen. Doch Lutz Hirschfeld ersparte sich den Kommentar, denn der alte Herr würde in den nächsten Monaten noch genügend Gelegenheit haben, sich mit dieser Thematik eingehender zu beschäftigen.
    „Wie ist es dir hier ergangen?“, erkundigte sich Hirschfeld daher.
    „Worauf willst du hinaus, Junge?“
    „Ich will auf gar nichts Bestimmtes hinaus“, erwiderte Hirschfeld geduldig. „Mich interessiert nur, wie du hier behandelt wirst.“
    „Meinst du die Therapie, die man mir hier verordnet hat?“, entgegnete Heinrich Hirschfeld und deutete bei dem Wort ‚Therapie‘ mit den Fingern Anführungszeichen an.
    „Zum Beispiel.“
    „Dieser ganze Vergangenheitsbewältigungsmist ist schlicht und ergreifend Humbug, wenn du mich fragst. Ich hatte einen schlechten Tag. Das war alles. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich überhaupt nicht, was ich hier unter all den Verrückten zu suchen habe! Hast du vorhin zum Beispiel die Alte gehört, die den ganzen Tag irgendwelche schwachsinnigen Dinge zählt? Wenn du nicht verrückt bist, wirst du es spätestens nach drei Tagen in dieser Irrenanstalt sein. Darauf kannst du Gift nehmen!“
    Lutz Hirschfeld erwiderte nichts und wartete darauf, dass sein Vater mit seiner Ansprache fortfuhr.
    „Hast du gar nichts dazu zu sagen?“
    „Ich höre dir einfach zu, das ist alles“, erwiderte Lutz und fuhr sich mit der Hand über den Dreitagebart.
    „Natürlich, mein Sohn ist mal wieder nicht um eine Ausrede verlegen.“
    „Das ist deine Sicht der Dinge.“
    „Ja, allerdings!“
    Heinrich Hirschfeld wurde lauter und griff wütend nach seiner Brille, die er auf dem Nachttisch neben dem Bett abgelegt hatte.
    „Wahrscheinlich steckst du noch mit den Weißkitteln unter einer Decke! Würde ich dir ohne weiteres zutrauen!“
    Lutz kannte das Spiel, das jetzt folgen würde: Regte sich sein Vater über irgendetwas auf, hatte er die Angewohnheit, seine Brille unentwegt auf- und abzusetzen.
    „Beruhig dich bitte wieder! Wir wollen uns doch nicht streiten.“
    „Was wir wollen, weiß ich nicht. Ich dagegen verlange ein wenig Respekt von meinem Sohn. Das ist wohl das
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