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Seelengrab (German Edition)

Seelengrab (German Edition)

Titel: Seelengrab (German Edition)
Autoren: Nadine Buranaseda
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sie sich in die Bewusstlosigkeit zurück. Nichts mehr hören. Nichts mehr sehen. Nichts mehr spüren. Sie war mutterseelenallein und niemand würde ihr helfen. Wahrscheinlich vermisste sie nicht einmal jemand.
    Nach einer Weile verebbte ihr Weinen in ein erschöpftes Schluchzen. Die Zweige vor dem Fenster bewegten sich jetzt ganz sachte. Noch lebte sie, auch wenn sie nicht wusste, was gerade mit ihr geschah. Während sich ihr Blick weiter an die tanzenden Schatten heftete, nahm ein Gedanke immer deutlichere Konturen an: Sie würde sich nicht ohne Gegenwehr in ihr Schicksal ergeben. Ihr Leben, so war es ihr noch vor Kurzem erschienen, hatte gerade erst begonnen. Wenn sie überleben wollte, musste sie sich so schnell wie möglich aus diesem Gefängnis befreien.
    Obwohl ihre linke Körperhälfte taub war, versuchte sie, sich auf den Rücken zu drehen. Bereits nach wenigen Zentimetern stieß sie auf Widerstand. Die Kiste, in der sie gefangen war, konnte kaum größer sein als ein Schrankkoffer. Sie hielt inne, um noch einmal Atem zu holen. Dann spannte sie ihre Muskeln erneut an und drückte mit Knien und Fußsohlen gegen die massiven Seitenwände. Sofort begannen ihre Fingerknöchel zu schmerzen, da sie mit dem vollen Gewicht ihres Rumpfes rücklings auf ihren Händen lag. Als sich nichts tat, nahm sie die Schultern dazu. Keuchend bäumte sie sich auf, bis sie die Kräfte verließen. Schwer fiel sie auf den Holzboden zurück und spürte deutlich, wie das Blut in ihren Ohren rauschte. Nur noch wenige Augenblicke und sie würde ohnmächtig werden. Bevor die Schwärze über ihr zusammenschlug, vernahm sie entfernt ein Geräusch. Verzweifelt kämpfte sie gegen die Bewusstlosigkeit an, doch es war bereits zu spät.
    Das unbewegte Gesicht, das sie kurz darauf anstarrte, konnte sie schon nicht mehr sehen.

03
    Lutz Hirschfeld konnte sich seit seiner Kindheit nicht entscheiden, ob er seinen Vater liebte oder hasste. Wahrscheinlich war es eine Kombination aus beidem. Mit den Jahren überwog die Abneigung, die bis zum plötzlichen Tod seiner Mutter in Gleichgültigkeit umgeschlagen war. Seitdem hatte Heinrich Hirschfeld seinem Sohn allerdings keine Gelegenheit mehr gegeben, ihn zu ignorieren.
    Seit Lutz denken konnte, hatte er seinen Vater als einen cholerischen, rechthaberischen Mann erlebt, der seinen Gefühlen freien Lauf ließ und sich nur wenig für die Belange anderer interessierte. An erster Stelle stand für Heinrich Hirschfeld stets die Arbeit, nicht die Familie. Als er vor 13 Jahren der Versetzung des Statistischen Bundesamtes folgte, das ihn als angesehenen Mathematiker in die Bonner Dependance berufen hatte, weigerte sich Lutz, damals noch Kriminalkommissaranwärter, sein Studium zum Diplom-Verwaltungswirt an der Berliner Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege abzubrechen. Seine zehneinhalb Jahre jüngere Schwester Johanna hatte zu diesem Zeitpunkt dagegen keinerlei Mitspracherecht und fügte sich der Entscheidung ihres Vaters.
    Am stärksten litt seine Mutter unter dem Umzug. Sie sehnte sich bis zuletzt in die alte Heimat zurück. Als Klavierlehrerin fiel es Luise Hirschfeld zwar nicht schwer, neue Schüler zu finden. Neben einer Halbtagsstelle in einer Musikschule konnte sie schnell ein paar Privatschüler dazugewinnen. Aber der große Familien- und Freundeskreis, den sie in Berlin zurücklassen musste, war durch nichts zu ersetzen. Daran änderte auch das große Haus nichts, das sie gegen die Altbauwohnung in Charlottenburg eingetauscht hatten.
    Hin und wieder fragte sich Lutz Hirschfeld, wie die Dinge sich entwickelt hätten, wäre nicht seine Mutter, sondern sein Vater einem Herzinfarkt erlegen. Es war müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Allerdings ertappte sich Hirschfeld hin und wieder bei diesem Gedanken und musste sich eingestehen, dass vieles anders verlaufen wäre, wenn es seinen Vater getroffen hätte.
    Nach dem Tod seiner Mutter ließ sein Vater sich immer mehr gehen. Er fing an zu trinken, woraus er mit der Zeit keinen Hehl mehr machte. Ein knappes Jahr nach der Beerdigung seiner Frau brach er das erste Mal zusammen und wurde danach für mehrere Monate krankgeschrieben. Seitdem wechselten sich Wochen, in denen er sich wieder gefangen zu haben schien, mit Phasen der absoluten Selbstaufgabe ab. Es konnten Tage vergehen, bis Heinrich Hirschfeld es von der Couch schaffte. Nur der Gang zur Toilette und zum Kühlschrank, um sich wieder mit neuem Alkohol einzudecken, bot eine klägliche
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