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Seelenglanz

Seelenglanz

Titel: Seelenglanz
Autoren: Brigitte Melzer
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Luft in ihre Lungen, ehe sie sich dem Raum wieder zuwandte.
    Ihre Mutter sah erbärmlich aus. Das Gesicht eingefallen, die Haut wächsern und beinahe so grau wie das kurze Haar, das fettig an ihrer Kopfhaut klebte. In den letzten Monaten war sie um Jahre gealtert. Schon lange hatte sie nicht mehr ausgesehen, wie eine Frau Ende vierzig aussehen sollte, jetzt jedoch hätte man sie für Jules’ Großmutter halten können. Mittlerweile hatte sie so viel Gewicht verloren, dass jedes Kleidungsstück wie ein loser Sack an ihr hing. Schlimmer jedoch war, dass sie kaum mehr die Kraft fand, sich für längere Zeit auf den Beinen zu halten. Daran konnten auch die Schmerzmittel nichts ändern.
    Aber wo zum Teufel kamen die Flaschen her?
    Erst gestern hatte Jules alle Vorräte ihrer Mutter in den Ausguss gekippt, ein regelmäßiges Ritual, das in etwa so erfolgreich war wie der Versuch, durch Treibsand zu spazieren. Es war ein Kampf gegen Windmühlen, den sie führte, seit sie alt genug war, um zu begreifen, was mit ihrer Mutter los war. Alle Versuche, sie vom Trinken abzuhalten, waren bisher gescheitert. Selbst die Alkoholvergiftungen, mit denenJules sie in letzter Zeit immer öfter in die Notaufnahme bringen musste, konnten sie nicht davon abhalten, weiterzumachen wie bisher. Nicht einmal die schlechten Nachrichten, die der Arzt ihr bei ihrer letzten Einlieferung mitteilen musste, hatten etwas daran ändern können – wenn überhaupt, hatten sie alles noch schlimmer gemacht. Der Alkohol brachte Karen MacNamara um. Und alles, was sie tat, war, die Angst vor dem Tod und den Schmerz, den ihre zerstörte Leber verursachte, mit noch mehr Schnaps und Tabletten zu betäuben.
    Es war fast schon Gewohnheit: Ihre Mutter soff – Jules kippte den Schnaps weg – ihre Mutter beschaffte sich Nachschub. Ein ewiger Kreislauf, solange sie denken konnte.
    Aber wo kam das Geld für den neuen Schnaps her?
    Früher hatte Jules ihrer Mutter Geld zum Einkaufen dagelassen. Das hatte sie allerdings schon lange nicht mehr getan, da der Kühlschrank auf diese Weise immer leer geblieben war, während die Hausbar sich stetig gefüllt hatte. Sobald sie erkannt hatte, dass ihre Mutter zwischen notwendigen Nahrungsmitteln und ihrem Drang nach Schnaps die falschen Prioritäten setzte und lieber auf das Essen verzichtete, hatte Jules begonnen, die Einkäufe selbst zu erledigen.
    Sie sammelte die Flaschen ein, trug sie in die Küche und leerte eine nach der anderen in den Ausguss. Wie viel Geld sie auf diese Weise wohl schon vernichtet hatte? Ganz bestimmt genug, um all die Rechnungen zu bezahlen, für die sie im Laufe der Jahre Mahnungen bekommen hatten und für deren Begleichung sich Jules regelmäßig aufs Neue den Arsch aufriss.
    Ihre Mutter war schon so lange ein Zombie, dass Jules sich nicht einmal mehr erinnern konnte, wann sie das letzte Mal etwas gemeinsam unternommen hatten oder wann siezuletzt einen Job gehabt hatte und nicht sie – Jules – es war, die das Geld nach Hause brachte. Jules wusste nicht, wie sie ihr noch helfen konnte. Einen Entzug konnten sie nicht bezahlen, sie hatten ja nicht einmal eine Krankenversicherung und waren auf die Notversorgung angewiesen, und den Besuch einer Selbsthilfegruppe verweigerte ihre Mutter hartnäckig.
    Woher hatte sie das Geld? Die Frage wollte sie einfach nicht loslassen. Sie konnte doch unmöglich …
    »O mein Gott«, flüsterte Jules. »Bitte lass das nicht wahr sein!«
    Sie öffnete den Schrank über der Spüle und zog die alte Kaffeedose hervor, die sie im obersten Regal hinter verstaubten Plastikdosen versteckt hatte.
    Mit zitternden Fingern zog sie den Deckel von der Dose und starrte auf die zwei einzelnen Dollarscheine darin. Konsterniert sank sie auf einen der beiden Stühle vor dem Esstisch, nicht in der Lage, den Blick von der Dose zu nehmen.
    Ihre Mutter hatte das Geld für die Miete gefunden. Die Miete, die heute fällig war! Sie hatte das Geld extra versteckt, doch anscheinend hatte sie ihre Mutter und deren Drang nach Alkohol unterschätzt.
    Jules lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie hatten bereits drei Wohnungen verloren, die ersten beiden, als ihre Mutter noch gearbeitet, aber nicht genug Geld nach Hause gebracht hatte, um die Miete aufzubringen. Die letzte, nachdem sie nicht mehr imstande gewesen war, einen Job länger als eine Woche zu behalten, ehe der Chef sie feuerte, weil sie stockbesoffen zur Arbeit kam. Dieses Loch hier war das Einzige, was sie noch bezahlen konnten.
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