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Seelenfeuer

Seelenfeuer

Titel: Seelenfeuer
Autoren: Barbara Wood
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vergeblich bemühte, die Worte hervorzubringen.
    Die Leute um sie herum starrten sie an. Sie konnte ihnen an den Gesichtern ablesen, was sie dachten. Eine Schwachsinnige! Sie kann ja nicht einmal sprechen.
    »E-er ist v-verletzt!« stieß sie hervor, das Blut des Verunglückten an ihren Händen.
    Die Umstehenden tauschten Blicke. »Dem ist nicht mehr zu helfen«, sagte ein Tuchhändler, der aus seinem Laden geeilt war und jetzt die teuren Teppiche musterte und überlegte, wie er sie in seinen Besitz bringen könnte. »Die Behörden werden dafür sorgen, daß er beerdigt wird.«
    »Er ist nicht t-tot!« widersprach Selene, doch die Leute hatten schon das Interesse verloren und wandten sich ab. Vergeblich rief Selene ihnen nach, sie sollten doch helfen, irgend etwas tun.
    »Was gibt es denn?« fragte plötzlich jemand neben ihr.
    Selene hob den Kopf. Ein Mann von gebieterischem Auftreten, in der weißen Toga des römischen Bürgers, stand vor ihr.
    »D-der Esel hat ausg-geschlagen«, artikulierte sie so deutlich sie vermochte. »Und ihn am K-kopf getr-troffen.«
    Der Fremde musterte sie. Die Einkerbung zwischen seinen Brauen gab dem Gesicht einen finsteren Ausdruck; doch die Augen schienen freundlich. Er betrachtete sie einen Moment, die Augen, die um Hilfe flehten, den Mund, der sich ungeschickt mit den Worten abplagte, dann sagte er: »Nun gut«, kniete nieder und untersuchte rasch den Verletzten. »Komm mit mir. Vielleicht können wir ihn retten.«
    Der Fremde winkte einem Begleiter, einem kräftigen Sklaven, der den Bewußtlosen auf seine breiten Schultern lud. Dann gingen die beiden Männer mit Selene an ihrer Seite, die groß war und gut Schritt halten konnte, in schnellem Tempo die Straße hinunter. Selene dachte nicht an ihren Korb, der auf dem Platz zurückgeblieben war und nun Beute eines Bettlers wurde; sie dachte auch nicht an ihre Mutter, die im Armenviertel Antiochiens auf die Bilsenkrautsamen wartete, die sie für eine Abtreibung brauchte.
    Sie traten durch ein Tor in einer hohen Mauer in einen Garten voller Sommerblumen. Nie zuvor hatte Selene ein so prächtiges Haus mit so großen, luftigen Räumen gesehen, nie zuvor hatte sie Fuß auf so edlen, von Mosaiken gezierten Boden gesetzt. An schimmernden Marmorwänden vorbei folgte sie dem Herrn und seinem Sklaven durch das Atrium in einen Raum, der größer war als ihr ganzes Haus und sparsam ausgestattet mit einer Liegestatt, mehreren Stühlen und Tischen mit goldglänzenden Beinen.
    Nachdem der Sklave den Verletzten auf dem Ruhebett niedergelegt und ihm Kissen unter den Nacken geschoben hatte, legte der Fremde seine weiße Toga ab und schickte sich an, die Kopfverletzung zu untersuchen.
    »Ich bin Andreas«, sagte er zu Selene. »Ich bin Arzt.«
    Der Sklave zog Schubladen auf, goß Wasser in eine Schale, legte Leinentücher und Instrumente bereit. Selene sah mit großen Augen zu, wie der Arzt den Kopf des Teppichhändlers rasierte, um dann die blutende Wunde mit Wein und Essig zu säubern.
    Während er arbeitete, sah Selene sich aufmerksam um. Welch ein Unterschied zu dem Raum, in dem Mera ihre Heilkünste ausübte! In dem Haus, das nur aus einem Zimmer bestand, war jeder Winkel vollgestopft mit den Berufswerkzeugen ihrer Mutter. Krücken hingen an den Wänden, in Regalen stapelten sich Dosen und Töpfe, Kräuter und Wurzelwerk hingen von der niedrigen Decke herab, Schalen türmten sich in Schalen, Verbandzeug war in jeder Nische untergebracht. Das Häuschen war eine heimelige und vertraute Zuflucht für die Kranken und Verletzten des Armenviertels von Antiochien; und es war das einzige Heim, das Selene in ihrem beinahe sechzehnjährigen Leben kennengelernt hatte.
    Aber dieser Raum hier! Groß und hell, mit glänzendem Fußboden und einem Fenster, durch das Sonnenlicht hereinströmte, mit kleinen Tischen, auf denen klar angeordnet Instrumente und Schwämme bereitlagen und kleine Behälter in ordentlichen Reihen nebeneinander standen. Und in der Ecke ein Standbild des Äskulap, des Gottes der Heilkunde. Dies, erkannte Selene, war der Behandlungsraum eines griechischen Arztes; sie hatte davon gehört, wie fortschrittlich diese Ärzte waren.
    Als sie sah, wie sachkundig Andreas die Kopfhaut des Verletzten mit einem Messer aufschnitt, wußte sie, daß sie richtig vermutet hatte. Dieser Mann war vielleicht sogar in Alexandria ausgebildet worden.
    Andreas hielt plötzlich in seiner Arbeit inne und sah sich nach Selene um. »Du kannst im Atrium warten. Mein
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