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Seelenfeuer

Seelenfeuer

Titel: Seelenfeuer
Autoren: Barbara Wood
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dazwischengeschoben.
    Selene hatte kaum Erfahrung mit Männern. Zwar pflegte sie Mera bei der Behandlung männlicher Patienten zu helfen, doch sonst kam sie nur selten mit Jungen oder Männern in Berührung. Die Jungen aus dem Viertel beachteten Selene nicht. Sie war hübsch, aber ihr Sprachfehler stellte ihre Geduld auf eine zu harte Probe.
    Selene sah, wie ihre Mutter sich aus einem Krug etwas in einen Becher goß und trank. Mera weiß alles, dachte Selene. Es gab nichts, was ihre Mutter nicht verstand, nicht erklären konnte. Und doch …
    Nie hatte Selene ihre Mutter von Liebe sprechen hören, von Männern oder Heirat. Sie hatte Selene in ihrer Kindheit von ihrem Vater erzählteinem Fischer, der bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen war, ehe sie geboren wurde –, aber darüber hinaus hatte Mera zu diesem Thema nichts zu sagen gehabt. Immer wieder hatten Männer Interesse an Mera gezeigt, waren mit Geschenken für sie ins Haus gekommen, aber Mera hatte sie alle freundlich, doch bestimmt zurückgewiesen.
    Selene begann, die gewaschenen Instrumente zu polieren.
    Heirat. Ehe. Darüber hatte sie eigentlich nie nachgedacht. Wenn sie sich ihre eigene Zukunft vorstellte, sah sie sich ein Leben führen wie ihre Mutter; ein bescheidenes Leben, allein in einem kleinen Haus, wo sie sich ihrem Kräutergarten und der Behandlung der Kranken und Verletzten widmete.
    Während Selene die Instrumente in ein weiches Tuch einwickelte und an ihren Platz legte, fragte sie sich, ob Andreas verheiratet war; ob er allein in dem großen Haus lebte.
    Wie geduldig er gewartet hatte, während sie gesprochen hatte. Nicht ein einziges Mal hatte er ihr die Worte aus dem Mund genommen, wie alle anderen das immer taten; nicht ein einziges Mal hatte sie sich von ihm ignoriert gefühlt. Ein schöner Name – Andreas. Am liebsten hätte sie ihn laut ausgesprochen, um ihn auf ihrer Zunge zu fühlen. Selene wußte, wenn sie sich an diesem Abend zu Bett legte, würde sie lange nicht einschlafen, sondern wach liegen und jeden Augenblick dieses Nachmittags noch einmal durchleben.
    Im Schatten des Alkovens, wo sie ihre Mahlzeiten bereiteten, beobachtete Mera ihre Tochter, während sie heimlich aus einem Krug trank. Dann wischte sie sich mit dem Handrücken über den Mund, stellte den Krug nieder und schloß die Augen. Sie spürte, wie die starke Medizin in ihre Adern strömte, und konnte sich schon jetzt, ehe es soweit war, die Erleichterung vorstellen, die sie ihr bringen würde. Der Schmerz würde nachlassen; eine weitere Nacht, hoffte Mera, würde sie von ihm befreit sein.
    Aber, dachte sie, während sie den Krug wieder an sein Versteck stellte, wie lange noch? Bald würde sie die Dosis erhöhen müssen. Und dann würde sie ihre Krankheit nicht länger vor Selene verheimlichen können.
    Der Wind, der draußen durch die vereinsamten Straßen pfiff, erinnerte Mera an jene Nacht vor nahezu sechzehn Jahren, als der Wind ihr die Flüchtlinge unbekannter Herkunft ins Haus geweht hatte. Immer häufiger suchte die Erinnerung an jene Tage sie in letzter Zeit heim, und sie wußte auch, warum: Die Träume waren wiedergekehrt; die grauenvollen Träume, die in den ersten Tagen nach ihrer Flucht aus Palmyra ihren Schlaf gestört hatten – Träume von rotgekleideten Soldaten, die plötzlich in ihr Haus stürmten, Selene packten und sie in die Nacht hinaus schleppten. Manchmal sah Mera in ihren Träumen, wie sie das Kind ermordeten; manchmal wurde es in rabenschwarze Finsternis davongetragen, die es verschlang. Jedesmal war Mera mit rasendem Herzklopfen und schweißnassem Nachtgewand aus dem Schlaf hochgefahren.
    Die Träume hatten vor Jahren aufgehört, und sie hatte sie vergessen; aber nun waren sie wieder da, Träume, die so wirklich schienen, daß Mera abends Angst vor dem Einschlafen hatte.
    Was hatten sie zu bedeuten? Warum waren sie nach so langer Zeit wiedergekehrt? War der Grund Selenes bevorstehender Geburtstag, der Tag, an dem sie die Schwelle vom Kind zur Frau überschreiten würde? Waren die Träume eine Warnung der Götter? Und wenn ja, wovor sollten sie warnen?
    In der Dunkelheit des Alkovens stehend, in Erwartung der lindernden Wirkung der Medizin, dachte Mera über sich und ihr Leben nach.
    Sie war, groß und schlank, mit ihren einundfünfzig Jahren noch immer eine schöne Frau, obwohl das Leben sie nicht geschont hatte. Es war hart gewesen, dieses Leben, geprägt von langen Zeiten unsteter Wanderschaft, in denen sie sich immer wieder in
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