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Seelenfeuer

Seelenfeuer

Titel: Seelenfeuer
Autoren: Barbara Wood
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uraltes Wissen, das über Generationen von der Mutter an die Tochter weitergegeben worden war. Nun jedoch sollten ihr in einem Ritual, dem Mera selbst sich vor Jahren in der ägyptischen Wüste unterzogen hatte, die höchsten Geheimnisse anvertraut werden. Es genügte nicht, die Kräuter und ihre Anwendung zu kennen; eine weise Frau mußte auch des Geistes der Göttin teilhaftig werden, die allein die Gabe des Heilens bescherte.
    Nichts durfte diese Einweihung verhindern. Nicht einmal mein Tod, dachte Mera entschlossen.
    Sie schloß die Augen und versuchte, das Bild ihrer Seelenflamme heraufzubeschwören, um die Wirkung des Opiums zu beschleunigen. Aber sie war zu angespannt; ihre Gedanken waren zu fest in der irdischen Ebene verwurzelt. Sie machte sich Sorgen um Selene und ihre Zukunft. Sie wußte, daß ihr der Tod beschieden war; daß sie sehr bald schon sterben würde. Dann würde Selene ganz allein auf der Welt sein. War sie vorbereitet? Wie würde dieses Kind, das noch immer Furcht hatte zu sprechen, überleben?
    Selene war mit unbeweglicher Zunge zur Welt gekommen; sie war auf dem Grund ihres Mundes festgewachsen gewesen. Erst als das Kind sieben Jahre alt gewesen war, hatte Mera einen Arzt gefunden, der gut genug ausgebildet war, um die Operation zu wagen und die Zunge freizusetzen. Bis zu jenem Tag hatte Selene überhaupt nicht gesprochen, und selbst nach dem Eingriff hatte sie Mühe gehabt, richtig sprechen zu lernen. Und im Lauf der Jahre, durch den Spott der anderen Kinder und die Ungeduld der Erwachsenen, war der Sprachfehler schlimmer geworden statt besser. Das wenige, was Mera das Kind hatte lehren können, war durch die Außenwelt wieder zunichte gemacht worden. So kam es, daß Selene noch heute, zwanzig Tage vor ihrem sechzehnten Geburtstag und dem Eintritt in die Welt der Erwachsenen, von lähmender Schüchternheit geplagt war.
    Heilige Isis, betete Mera, laß mich lange genug am Leben, um die Kraft meines Geistes an Selene weiterzugeben. Gib mir die Zeit, sie in die Welt der Frauen und der Selbständigkeit einzuführen. Und ich bitte dich, heilige Isis, gib, daß meine Tochter rein bleibt bis zum Tag ihrer Einweihung in die Mysterien …
    Meras Gesicht verdunkelte sich, als sie sich erinnerte, in welcher Erregung Selene an diesem Nachmittag aus der Oberstadt heimgekehrt war. Der Korb an ihrem Arm war nicht der gewesen, mit dem sie am Morgen das Haus verlassen hatte, und er hatte weit mehr Bilsenkraut enthalten, als sie mit ihrem Geld hätte kaufen können. Selene hatte eine wirre Geschichte von einem Mann erzählt, der von einem Esel getreten worden war, von einem wohlhabenden griechischen Arzt und einer wunderbaren Heilung. Nie zuvor hatte Mera ihre Tochter so aufgeregt erlebt.
    »E-er hat d-die In-instrumente zuerst im F-feuer erhitzt«, hatte Selene hervorgestoßen. »Und er h-hat sich zuerst d-die Hände ge-gewaschen.«
    »Ja«, hatte Mera geantwortet. »Aber war das Feuer aus einem Tempel? Sonst hilft es nichts. Und hat er kein Räucherwerk verbrannt? Was für Amulette hat er in den Verband eingebunden? Was für Gebete hat er gesprochen? Welche Götter waren im Zimmer?«
    Mera war überzeugt davon, daß einer der beste Arzt sein konnte und doch nichts ausrichten würde, wenn er sich nicht der Hilfe der Götter versicherte. Und ein Messer zu gebrauchen! Um ein Geschwür aufzustechen, ja, oder um die Naht um einen Muttermund zu durchtrennen. Aber das Messer in menschliches Fleisch zu senken, war Hochmut, Frevel. Mera vertraute auf Kräuter und Zauber; dem menschlichen Körper mit dem Messer zuleibe rücken, das taten nur Scharlatane und ruhmsüchtige Dummköpfe.
    Als Mera aus dem Alkoven trat, um sich zur Ruhe zu legen, sah sie wieder Selenes Gesicht, wie es gewesen war, als sie von dem griechischen Arzt gesprochen hatte. Es hatte einen ganz neuen Ausdruck gezeigt, wie ihn Mera bis dahin nie an ihr gesehen hatte, und bei der Erinnerung daran fühlte Mera von neuem das Drängen der Zeit. Reinen Geistes, reinen Herzens und reinen Körpers mußte Selene zu ihrer Einweihung kommen. Es durfte keine Ablenkung geben, keinen Gedanken an fleischliche Lust. Fasten, Beten und Meditation würden dem Ritual vorausgehen, um das Mädchen in den Zustand kosmischen Bewußtseins zu bringen. Sie würde Selene in diesen letzten achtundzwanzig Tagen sicher behüten müssen.
    Mit einem müden Seufzer streckte sich Mera auf ihrer Matte aus. Es war ein langer Tag gewesen. Am Morgen hatte sie den gebrochenen Arm der
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