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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger
Autoren: Andreas Brandhorst
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in seinen Händen.
    »Was?« Der kleine Janow – er war kaum größer als Florence – stand vor dem grauen Oval in der einen Wand des Hauptraums und hatte beide Hände auf die unterschiedlichen Strichmuster gelegt, die Geritus als Erster von ihnen für Codesequenzen gehalten hatte. Janow wurde nicht müde, immer wieder unterschiedliche Kombinationen des Codes auszuprobieren. Stunden konnte er auf diese Weise verbringen, und sein einfaches Gemüt erfreute sich dabei an den bunten Lichtern, die gelegentlich über das Oval krochen.
    »Weg vom Portal, Janow, sofort !«, wiederholte Navarro scharf.
    Janow trat erschrocken einen Schritt zurück.
    »Was ist los?«, fragte Florence. »Geritus hat eine Zeitkapsel erwähnt. Meinte er das da?« Sie zeigte auf den Zylinder.
    »Eine Zeitkapsel?« Navarro sah zu ihr hoch. »Ja, so könnte man es nennen. Sie enthielt das hier. Sieh es dir an.« Er reichte Florence das Dokument.
    Sie nahm es entgegen und sah auf einen Text, der für ein oder zwei Sekunden überhaupt keinen Sinn zu ergeben schien. Dann veränderten sich die Zeichen und bildeten verständliche Worte. Florence erinnerte sich an das Buch in der Festung, dessen Schrift zuerst ebenfalls aus wirren Schnörkeln bestanden hatte, bevor sie in der Lage gewesen war, den Text zu lesen.
    Sie las, und schon nach den ersten Sätzen breitete sich ein Gefühl der Leere in ihr aus.
    Geräusche kamen aus dem Gang, durch den sie eben geeilt war. Sie achtete nicht darauf, las weiter und sagte schließlich: »Wir müssen das Portal zumauern.« Sie wagte es kaum, den Blick darauf zu richten. »Solange es frei zugänglich ist, könnte es durch einen dummen Zufall geöffnet werden.«
    Navarro deutete auf das Dokument. »Hältst du das für authentisch? Glaubst du, was da geschrieben steht?«
    »Ich schätze, wir können es uns nicht leisten, daran zu zweifeln.«
    Stimmen erklangen, und nur einen Moment später lief Estell in den Hauptraum, gefolgt von Lucius und dem vierten Mitglied der Archäologengruppe.
    »Geritus«, begann Florence verärgert, »ich habe dich doch gebeten … Estell, rühr auf keinen Fall das Portal an!« Mit einigen raschen Schritten war sie bei ihrer Tochter und hielt sie fest, was sie in unangenehme Nähe des Portals brachte. Sie wich davon zurück und zog Estell mit sanftem Nachdruck mit sich.
    »Ich weiß, Florence«, sagte Geritus und lächelte sonderbar. »Aber ich habe jemanden mitgebracht.«
    Malena kam herein, und Florence sagte: »Bitte bring die Kinder nach oben. Wir …« Dann versagte ihre Stimme.
    Hinter Malena betrat ein großer, schlanker Mann den Hauptraum und hielt den Kopf zunächst gesenkt, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Als er ihn hob …
    »Ich habe dich für tot gehalten!«, entfuhr es Florence.
    »Ich weiß«, sagte der Mann und kam langsam näher. Er war älter geworden, nicht viel, aber ein bisschen, und sein Blick wirkte anders, reifer. Wilde Freude und Zorn rangen in Florence miteinander.
    »Fast sechs Jahre lang habe ich geglaubt, dass du gestorben bist!«
    »Ich weiß.« Der Mann blieb vor ihr stehen. »Tut mir leid. Es ging nicht anders.«
    »Fast sechs Jahre!« Florence hob die Faust und hielt sie dicht vor die Nase des Mannes. »Ich sollte …«
    »Ich bin nicht Kronenberg.« Der Mann lächelte. »Hallo, Flo.«
    »Hallo, Zach.« Plötzlich war die Freude viel größer als der Zorn, und sie umarmte Zacharias. »Sechs lange Jahre«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
    »Ich wäre eher gekommen, vielleicht nach ein paar Monaten«, erwiderte er leise. »Sobald der Seelenfänger keine Gefahr mehr darstellte. Aber der Ereigniswinkel ist recht groß.«
    Florence fiel plötzlich etwas ein. Sie wich zurück und deutete auf Lucius und Estell. »Darf ich dir deine beiden Sprösslinge vorstellen? Du bist seit fünf Jahren Vater.«
    »Was?« Zacharias machte große Augen. »Aber wie …«
    »Ich muss dir doch nicht erklären, woher Kinder kommen, oder? Erinnerst du dich an eine Welt aus Schnee und Eis, an eine einfache Hütte mit einem herrlich warmen Bett?«
    »Aber …«
    »Lucius, Estell, dies ist euer Vater. Ich habe euch oft genug von ihm erzählt.«
    Der stille, ruhige Lucius sah staunend zu ihm hoch, und Estell fragte: »Mama hat gesagt, dass du tot bist.«
    »Lucius und Estell?«, wiederholte Zacharias.
    »Ja«, sagte Florence leise. »Wie die Kinder der anderen Florence, die Salomo dir gezeigt hat.« Das war eine Verbindung, dachte sie. Jetzt gab es noch eine andere, und sie bestand
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