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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger
Autoren: Andreas Brandhorst
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    Etwas veränderte sich im Weiß, und Zacharias wusste, dass er allein war.
    Zeit verging. Ein Teil von ihm zählte die Sekunden, und er war nicht einmal sicher, ob er sie richtig zählte; ein anderer versuchte, einen Sinn in den Worten zu erkennen, die Lily an ihn gerichtet hatte.
    Schließlich seufzte er ohne einen Mund, öffnete die inne ren Augen, richtete den Blick auf das Grundmuster, fand den richtigen Ort und die richtige Zeit und brachte sich mit seinen Gedanken dorthin.

Eine Lücke füllen
    E in Mann in der blauen Uniform von Samsung-Nippon stand am Fenster, dessen Jalousien heruntergelassen wa ren, und ein weiterer Konzernpolizist hatte vor der geschlossenen Tür Posten bezogen. Der kahlköpfige Dr. Anderson überprüfte die Anzeigen der medizinischen Geräte an der einen Wand, während Agnes den Tropf der Interface-Liege kontrollierte, in der Florence ruhte – wie zart sie darin wirkte, wie zerbrechlich, obwohl sie im Space doch immer so stark war. Thorpe und Rasmussen waren ebenfalls da, reglos wie alle anderen, erstarrt wie die Angreifer und Verteidiger in Lassonde; vor der Tür des Nebenzimmers, in dem Teneker lag, schienen sie miteinander zu flüstern. In einer Ecke des Zimmers, wie um niemandem im Weg zu sein, wartete Nathan Fukuroku, nicht nur Gesandter von Samsung-Nippon, sondern auch einer der Genesis-Verantwortlichen. Hier beginnt es, dachte Zacharias. Hier hat es begonnen. Hier greifen Pläne innerhalb von Plänen wie Zahnräder ineinander und entwickeln ein Bewegungsmoment, das uns alle mit sich gerissen hat.
    Aber irgendwo in diesem Mechanismus gab es eine Stelle, an der die Zahnräder ins Leere griffen, und dadurch konnten sie ins Stocken geraten, was das Bewegungsmoment verändert hätte.
    Zacharias fragte sich, ob das eine angemessene Metapher war. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Er musste zugeben, dass er nicht genau verstand, was hier geschah. Sein Instinkt sagte ihm, dass Lily recht hatte; ihre Worte fühlten sich wahr an. Möglicherweise ging diese Erkenntnis auf das zurück, was Lily »erwachendes Potenzial« genannt hatte.
    Er machte einen Schritt nach vorn und sah sich selbst, wie er sich sonst nie sah: hilflos im Rollstuhl, die Augen halb geschlossen, der Körper schwach und größtenteils gelähmt. Der Mann, der dort im Rollstuhl saß, angeschlossen an ein Interface-System, das ihn mit Florences Liege und über sie mit Lily verband, schien kaum fünfzig Kilo zu wiegen, und das blasse, faltige Gesicht wirkte greisenhaft.
    Von einem Augenblick zum anderen fühlte Zacharias das enorme Gewicht des Moments. Hier ging es nicht darum, eine Entscheidung zu treffen, die er mit seinem Gewissen und auch dem Gebot der Notwendigkeit vereinbaren konnte. Es musste vielmehr etwas vervollständigt werden, das ihm überhaupt erst die Möglichkeit gab, solche Entscheidungen zu treffen. Es galt, eine Lücke in der Kausalität zu füllen, und auch wenn ihre Größe mit anderen, ihm unvertrauten und sogar absurd erscheinenden Maßstäben gemessen werden musste: Er war dazu imstande, sie zu füllen, und diese Fähigkeit bestätigte die Worte, die er Penelope gegenüber ausgesprochen hatte, aber vor allem an ihn selbst gerichtet waren. Wir können tatsächlich wie Götter sein, dachte er. Menschen wie Götter. Hier im Space, der uns allen Freiheit bietet, können wir Dinge einfach nur deshalb geschehen lassen, weil wir sie geschehen lassen wollen. Wir können sie sogar nachträglich ändern, wie bei einer Reise in die Vergangenheit.
    Darin lag enorme Macht. Und, hinter ihrem verlockenden Schein verborgen, drohten zahlreiche Fallen. Überheb lichkeit führte zu den meisten von ihnen. Wir müssen lernen, mit dieser Macht umzugehen, dachte Zacharias, während er auf den Mann hinabsah, der er einmal gewesen war, auf einen Mann, der nicht einmal sprechen und nur mit den Augen schreiben konnte, sich aber mit den eigenen Gedanken selbst neu erschaffen hatte.
    Er ging durch den Raum, und diesmal fühlte er nicht einmal den Widerstand der unbewegten Luft. Der Instrumentenwagen beim Fenster war sein Ziel, neben dem Konzernpolizisten, der wie eine blaue Statue vor den geschlossenen Jalousien aufragte. Es gab noch Fragen, erinnerte er sich. Er wusste noch längst nicht alles über Genesis, aber vielleicht gelang es ihm mit Florences Hilfe, Zugang zu seinen Erinnerungen an das Projekt zu erhalten. Und wenn nicht … Hier endete ein Kapitel ihres Lebens, auch wenn einige Fragen offen blieben.
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