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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch
Autoren: Isabella Nadolny
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eines Nachmittags zwei Parteien eintreffen, von denen keine vom Telefon Gebrauch gemacht hat.
    Es gibt Leute, die gesellschaftliche Talente haben; sie können wildfremde Käuze miteinander auf eine gewisse Temperatur bringen, so daß sich alle Beteiligten wohl fühlen. Ich setze besonders ungern Menschen zusammen an einen Teetisch, die zwar einzeln besehen reizend sind, sich untereinander aber nicht das geringste mitzuteilen haben. Was dann bleibt, sind Gespräche über die Straßenlage ihrer Wagen, und das ist angesichts der Kürze unseres Lebens reine Zeitverschwendung. Manchmal helfen wir uns so, daß Michael mit der einen Partei im Garten, ich mit der anderen hinterm Haus Tee trinke. Kurz vor dem Aufbruch stoßen die verschiedenen Gäste dann auf der Suche nach dem stillen Ort doch irgendwie zusammen, und ihr Abschied verzögert sich stark. Sie müssen dann nämlich alles nachholen, was wir mühsam hintangehalten haben, und fragen einander: »Sind Gnädigste schon länger in Bayern?«
    Das Abwinken der motorisierten Gäste haben wir unter uns aufgeteilt. Michael gibt Ratschläge für das Umkehren auf der Wiese hinterm Haus, Dicki winkt, und ich stürze in die Küche und drehe unter allen Töpfen das Gas an, weil es schon wieder reichlich spät für das Abendessen ist. In stark belebten Sommern kommen nach den Tee-mit-Kuchen-Gästen meist noch Wermut-mit-Keks-Gäste, und wenn wir das bißchen Abendessen hinuntergewürgt haben, müssen wir die Krümel hastig vom Tischtuch schütteln, denn nun können jede Minute die Käsestangen-mit-Wein-Gäste eintreffen.
    Ganz unkonventionelle Besuche kommen auch einmal zu anderen Tageszeiten. Der früheste war ohne Zweifel jener junge Schweizer Verkehrspilot, der den See und die Wiese hinter unserem Haus seit Jahren von oben kannte und nun in seinem Urlaub darauf zeltete. Er kam um acht Uhr früh und bat, unsere Steckdose für seinen Rasierapparat benutzen zu dürfen. Er war so nett, daß wir noch immer hoffen, ihn dereinst auf eben dieser Wiese notlanden zu sehen. Ebenso unerwartet erschien einmal, vor vielen Jahren, vormittags um elf ein Gast an der Küchentür. Ich war dabei, zu Michaels Geburtstag eine Ente zu braten, die erste seit unserer Hochzeit, und gab mich diesem seltenen Vergnügen mit ganzer Kraft hin. Der alte Mann, der nach der Klinke tastete, legte den Kopf zurück, nahm seinen Rucksack ab und fragte mich, darin herumwühlend, ob ich ihm etwas Besteck abkaufen wolle, er brauche es nicht mehr. Seine Frau sei gestorben, während man ihm im Krankenhaus den halben Magen wegoperiert habe. Gebürtig sei er aus dem Banat, und zur Zeit lebe er in einem Flüchtlingslager in unserer Nähe. Bald zeigte sich, warum er die Küchentür gewählt hatte. Er hatte die andere nicht gesehen. Auf dem einen Auge war er gänzlich, auf dem anderen beinah blind. »An Schimmer hab’ ich noch drauf«, sagte er, »an Schimmer.«
    Da er es ja nicht sah, hielt ich meine Tränen nicht zurück. Ich führte ihn an unseren Verandatisch und gab ihm warme Milch, das einzige, was er augenblicklich vertrug, hörte mir seine sehr sachlich, ganz und gar nicht wehleidig vorgebrachte Lebensgeschichte an und ging zwischendurch in die Küche, um bitterlich weinend die Ente zu begießen. Verschwollen und mit roter Nase störte ich Michael bei seiner Arbeit, was nur in extremen Fällen geschieht. Michael weiß, daß ich an alten Bettlern entzweigehe, er war lang genug mit mir verheiratet und hat in dieser Beziehung einiges durchgemacht. Er warf einen Blick in mein Gesicht und einen zweiten auf die Veranda, stand auf und öffnete seinen Schrank. »Such dir was aus«, sagte er milde. Ich wählte zwei Unterhosen, Socken, eine Strickjacke. Der Alte freute sich sehr. Er nestelte seinen Rucksack noch einmal auf; ich solle es ihm selber einpacken. Der Rucksack enthielt außer dem billigen Alpakka-Besteck nur ein Feldstühlchen, auf dem der Alte sich unterwegs auszuruhen pflegte. (Es erinnerte mich an das Gepäck des Mädchens in meinem Märchenbuch, das seine Brotrinde, ein Stühlchen und einen Knochen mitnahm, um auf den Glasberg zu steigen.) Ich lud den Alten ein, immer zu kommen, wenn er Lust dazu hätte. »Gern«, entgegnete er schlicht und voll Würde. »Die Bauern hier sind nämlich sehr, sehr hart.« Niemand wußte das besser als ich.
    Wie selten gehen solche Geschichten gut aus. Diese ging gut aus. Er kam wieder, nicht aufdringlich, vielleicht einmal im Monat. Am meisten freute ihn unser selbstgebauter
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