Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schwindel

Titel: Schwindel
Autoren: Kristina Dunker
Vom Netzwerk:
Fahrer des Wagens an – es musste sich um den Jungen handeln, der in meiner Nähe gestanden hatte   –, »es reicht, wir sind doch keine Asis!«
    »War nur ’n Witz, Alter.« Der Junge zog geräuschvoll die Nase hoch, spuckte aus, ging um den Wagen herum und stieg ein.
    Bevor sie losfuhren, beugte sich der Fahrer – er blickte genau in meine Richtung, sah er mich eigentlich gar nicht? – aus
     dem offenen Fenster heraus und sagte mit lauter Stimme: »Vielleicht komme ich in ’ner Stunde noch mal gucken, ob du’s geschafft
     hast, aufzustehen und nach Hause zu laufen. Ich mein, wir sind ja keine Unmenschen, ne?«
    Der Fahrer drehte den Motor auf, jemand schaltetedie Musik wieder ein, harte Bässe, die den Wald ins Vibrieren brachten und die Tiere verscheuchten, der Wagen setzte zurück,
     drehte, fuhr über die Brücke und auf der anderen Bachseite davon.
    Der Junge, den sie Schleicher und Schwein genannt hatten, gab keinen Laut von sich. Er blieb liegen, wo er war, und rührte
     sich nicht.
    Ich machte es genauso.

6
    Wie viel Zeit verging, kann ich nicht mehr genau sagen. Ich erinnere mich an die klamme Kälte, die unaufhaltsam aus dem Erdboden
     in meinen Rücken hinaufstieg, und den bleichen Mond. Ich wünschte, ich läge in meinem Bett, sei eben aus einem Albtraum erwacht
     und fürchtete nichts anderes, als beim Weiterschlafen in eine Fortsetzung zu geraten. Doch dieser verunglückte Tag war kein
     böser Traum, die zurückkehrenden Naturgeräusche riefen mich zur Vernunft: Ich durfte die Augen nicht schließen, ich durfte
     nicht einschlafen, ich würde mir hier draußen Anfang Oktober den Tod holen.
    Ich sah zu dem Jungen hinüber. Gerade schlich die schmale Silhouette eines Fuchses in sicherem Abstand an ihm vorbei, blieb
     stehen, schnüffelte lautlos und schnürte dann unbeeindruckt seiner Wege. Mir kam ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn der
     Junge tot war? Wenn das Tier gerochen hatte, dass von diesem Menschen keine Gefahr mehr ausging, und nur deshalb überhaupt
     so nahe gekommen war?
    Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und kroch, so leise es mir eben möglich war, unter der Bank hervor. Der Rucksack lag im
     Weg, er gab ein ratschendes Geräusch von sich, als ich ihn über den Schotter schob. Beim Hochziehen am Tisch bohrte sich ein
     Holzsplitter in meine Hand. Mein linkes Bein war eingeschlafen, ich konnte kaum auftreten, aber das musste ich jetzt, ich
     musste endlich aktiv werden.
    Ich lief, den Rucksack kraftlos hinter mir herschleifend, auf den Jungen am Boden zu. Er lag mit dem Rücken zu mir auf der
     Seite, die Arme angewinkelt vor dem Gesicht.
    »Hallo?«, sprach ich ihn an und der hohe, brüchige Klang meiner Stimme erschreckte mich selbst. Zudem war mir, als horchte
     der ganze Wald auf das, was ich nun sagen und tun würde. Viel würde es nicht sein. Einen Erste-Hilfe-Kurs hatte ich nie besucht,
     und wenn die Jungs mit dem Geländewagen zurückkämen, würde ich versuchen wegzurennen, so viel war sicher.
    »Kannst du mich hören?« Ich beugte mich zu dem Jungen hinunter und tastete widerstrebend nach der hellen, dick gefütterten
     Sportjacke, die er trug. Dabei war ich so zaghaft, dass ich kaum den Stoff berührte. Dennoch zuckte er zusammen.
    »Kann ich irgendwas für dich tun? Hast du Schmerzen? Soll ich dir aufhelfen, ich   …« Ich habe keine Ahnung, was man in so einer Situation macht, hätte ich am liebsten gesagt. Aber ich brachte die Worte nicht
     heraus, ging zitternd neben dem Opfer in die Hocke und streichelte mit der Hand ungelenk seinen Kopf. Dabei registrierte ich
     alle Details, als passierten sie jemand anderemund gingen mich nichts an. Ich nahm seinen eindeutigen Geruch wahr, sah seine verschwitzten Haare, die geschwollenen Augen,
     die Platzwunde an der Oberlippe. Neben ihm lag der Ast, mit dem ihn einer der Täter bedroht und wahrscheinlich auch geschlagen
     hatte, ein Stück weiter die schmutzige Baseballkappe, die sie ihm abgenommen haben mussten und über die ihr Wagen anschließend
     gefahren war.
    Ich hörte seine kurzen, schnellen Atemzüge.
    Auf einmal wusste ich, dass er sich vor mir fürchtete.
    »Hey, ist doch gut«, sagte ich beruhigend, aber er schien mich für das blonde Mädchen zu halten. Mit einem einzigen Satz robbte
     er ein Stück von mir weg und hielt die Arme – am Ellbogen war die Jacke zerrissen – schützend über den Kopf.
    »Mein Vater hat das Handy«, schrie er, »ich kann nichts machen, ich komm nicht ran an die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher