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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman
Autoren: Haymon
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Sprach ich von Freude? Von Glück? Wohnte man deshalb an diesem Ort? Die Wohnstraße der Rue du Départ erzeugte zumindest den Wunsch, hier zu leben, und ich ertappte mich dabei, dass ich auf die Frage: „Willst du hier bleiben?“, aus vollem Herzen antwortete: „Ja, ich will.“ Ich hatte das schwindelerregende Gefühl, auf der Brücke eines Schiffes zu stehen. Der Drang, an das Geländer heranzutreten, hinaufzuklettern. Eine vorwärtsgerichtete Sehnsucht stachelte mich an. Ja, ich wollte nach Hause, dorthin, wo am Horizont alle Geleise zusammenschmolzen.
    Der Wind wehte mir um die Ohren. Im Hotel waren die Vorhänge teilweise zugezogen. Der Kellner saß am Fenster und tippte. Ja, wenn das so leicht gewesen wäre, sich das Unglück von der Seele zu schreiben.
    Am nächsten Tag war Hochzeitstermin. Mein Magen knurrte. Ich musste etwas essen, trinken, aber ich wollte nichts beißen. Ich machte mich auf die Suche nach einem Supermarkt.
    Der Bus war voll mit Tragetaschen und nur wenigen Menschen. Da entdeckte ich Paul. Er blätterte in einer Zeitung. Ich wandte mich sofort ab. Meine Sonnenbrille versteckte das halbe Gesicht. Ich hörte ihn atmen, stoßweise und heftig. Ich konnte ihn riechen. Er verwendete noch immer dasselbe Eau de Cologne, mit dem er meine Nase verseucht hatte. Der Geruch klebte für immer fest. Ich steckte meine Hand in die Tasche und griff das Skalpell.
    Dann nahm ich die Verfolgung auf. Paul führte mich zum Supermarkt. Er schob den Einkaufswagen durch die Regale zu den Spirituosen und studierte Champagner-Etiketten. Er bemerkte mich nicht. Er hatte eine gute Figur und hätte sich Diskontkleider leisten können, aber er trug feinstes Tuch. Marie hatte als Kind aus Müllsäcken Regenmäntel gebastelt und ihr eleganter Gang allein hatte den Sack in aufregende Haute Couture verwandelt. Ich schloss die Augen, fühlte die Anspannung, als zöge jemand das Uhrwerk meines Körpers auf. Ich tickte schon richtig. Pauls Handy klingelte. Er griff in die Innentasche seines Sakkos und hielt den Apparat ans Ohr. Ich war außer Hörweite. Ich näherte mich, überschritt die Grenze, positionierte mich hinter seinem Rücken und studierte die Konservendosen.
    Pauls Stimme war hart wie gewohnt. Er sagte: „Ich weiß nicht, wann ich nach Hause komme heute Nacht, vermutlich erst spät. Ich werde nach der Sauferei ein Taxi nehmen. Wir feiern im Bristol. Und was treibst du, Jungfrau?“
    Ich lachte spitz auf. Paul hatte mich gehört, sofort schaute er her. Ich winkte schnell einer Verkäuferin, nahm eine Dose Thunfisch und eilte auf sie zu. Ich hörte noch, wie er besorgt sagte: „Sperr die Türen gut zu!“ Das war mein Zeichen.
    Die Fenster stierten zur Straße. Licht sammelte sich in den Fugen der Strebepfeiler. Das Haus hatte ein dramatisches Profil. Die Fenster im ersten Stock waren finster wie die Angstaugen einer Norne. Marie war also an diesem Abend allein zu Haus. Sie würde sich nicht betrinken, aber ich würde mit ihr poltern.
    Ich hatte mich auf den leisen Sohlen meiner Sneakers angeschlichen. Der Wind rauschte durch die Baumkronen. Die aufreißenden Wolken ließen den Mond die Sträucher ausleuchten. Ich schaute über die silbrig schimmernde Gegend, nirgends war ein menschliches Wesen in dieser so menschlich anmutenden Topographie zu sichten. Der Blick durch das Fenster zeigte die Bühne des letzten Aktes. Marie lag auf dem Diwan. Ich hätte nicht so friedlich geschlafen, hätte ich vorgehabt, einen Schänder zu ehelichen. Marie fror. Sie zog sich die Decke bis unters Kinn hoch. Sie hatte die Arme um sich geschlungen. Sie war reich, aber sie wirkte bescheiden. Sie war gebildet, aber sie wirkte auch darin bescheiden. Sie war schön, aber sie wirkte bescheiden mit den mir entgegengestreckten Nasenlöchern.
    Eine Kältekammer hätte ihr gut getan, um Momente totaler Empfindungslosigkeit zu erreichen und so das Glückshormon zur Ausschüttung zu bringen. Kälte tut gut, weil sie das Babel der Gefühle einfriert und durch Kristallisation in Gestalt bringt, zumindest eine Struktur schafft. Auf der Scheibe wucherten Eisblumen. Ich behauchte den Kelch. Mein Atem war ganz weiß. Ein Käuzchen rief im nahegelegenen Wald. Ich spürte den Wunsch zu verschwinden, zur Mikrobe zu schrumpfen und ein schuldloses Glück zu versuchen, als Erreger in Maries Physis einzudringen. Bewegungslos lag sie da, und jetzt erst, als mein Blick wieder hochkletterte, streckte sie die Hand aus und ballte sie zur Faust, die sie in die
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