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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman
Autoren: Haymon
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ihm in einem Raum zu sein. Die rauen Hände wurden nur feinfühlig, wenn sie schlanke Flaschenhälse oder Mädchenbeine berührten und Schnaps einschenkten. Großmutter hätte ihn verjagt, wäre das üblich gewesen. Alkoholismus war normal in dieser hoffnungslosen Gegend, und was sonst noch an Missbrauch in den Häusern geschah, darüber wurde nicht gesprochen. Großvater saß schweigend am Tisch, wetzte das Messer, hielt die Klinge ins Licht. Er fixierte mich aus dem Augenwinkel. Sein Zwinkern forderte mich auf, ihm näher zu rücken, mich ein wenig an ihn zu drücken. Ich war starr, einerseits vor Angst, andererseits vor Neugier. Ich wusste, dass mir nichts passieren würde, weil Großmutter im Raum war. Sie hatte uns aber den Rücken zugewandt, schälte Kartoffeln. Großvater grinste und setzte die Klinge an seine ordinäre Zunge. Ich war wie gebannt vor Schrecken und Lust am Schrecken, ob er sich wirklich die Zunge abschneiden würde. Die Sekunden dehnten sich zu Minuten. Als die Klinge in der rechten Hand sich auf die Zunge senkte, schluckte ich lustvoll gebannt meinen Speichel, bis die geschärfte Schneide auf der ersten Hautschicht aufsetzte. Als dann das Blut quoll, schrie ich auf. Blitzartig steckte er das Messer weg, die Zunge verschwand im Mund, so dass Großmutter seine perverse Selbstverletzung nicht sehen konnte. Sie erhaschte nur mit einem Blick das Messer in seiner Hand, schnappte mich, stürmte mit mir aus dem Haus. Sie erklärte nichts, aber ich spürte ihre Wut und Angst. Die Nachbarn beobachteten uns, wie wir aus dem Haus jagten. Großmutter hielt sofort inne, sog die Luft durch die Nase ein, richtete sich gerade und sagte: „Komm wir gehen in den Garten und jäten Unkraut.“ Wir hörten dumpfe Schläge und Klirren im Haus. Auch die Nachbarn hörten es, aber sie nickten nur tröstend, hoben die Schultern und ließen sie ratlos wieder fallen. Jeder wusste, was los war, und ich wusste, dass Großmutter log, wenn sie sagte, dass der Großvater nur ein Versager war, aber ansonsten liebevoll. Er war ein gedemütigter Mann. Hätte er seine Arbeit nicht verloren, wäre seine Tochter nicht genötigt gewesen, ins Ausland als Putzfrau arbeiten zu gehen. Ich weiß heute, hätte er sie nicht angefasst, hätte sie nicht das Weite gesucht. Sein Versagen als Suchtkranker der Familie gegenüber bleibt unentschuldbar. Er drohte, uns umzubringen, wenn wir seine Lüste nicht befriedigten. Auffüllung der Defizite durch Missbrauch. Ich selbst war vor Mangel und Vernachlässigung beschützt, meine Großmutter sorgte für meine Gesundheit und Unbeschadetheit. Marie soll niemals behaupten, dass ich ein Opfer wäre! Was Paul anbelangt, gelten andere Kriterien.
    Ich roch Rauch. Irgendwo qualmte eine Zigarre. Schwaden zogen durch das Loch in der Decke, wo der Haken für die Lampe steckte. Diese Mutter über mir kochte ihrem Kind womöglich Breie, die sie selbst mixte, so wie ich es einst für die kleine Schwester tat, anstatt auf das Wichtige im Leben, die guten Gefühle, zu achten. Die Frau dort oben sprach. Dann weinte sie. Mit dem Kind redete sie kroatisch. Vielleicht war sie selbst Alkoholikerin. Meine Mutter war zwanzig, als sie mich verließ. In meinem Kopf schlummerten die tausend Splitter jenes Bildes, das ich von ihr hatte. Ich zwang mein Gehirn, die Konzentration auf eine Facette zu versammeln, und ich schaffte es nur unter Kopfschmerzen.
    Die Mutter als Nabel meiner Welt. Er ist gewölbt und ragt aus einem runden Bauch heraus. In dieser Rundung reifte ich zum Säugling heran. Die Mutter war meine Bucht, wärmend, sanft und nährend. Und dann war sie fort und kam als gefräßige Qualle wieder, stülpte sich mit ihren feuchten Lippen über mich, als wollte sie mich zurückholen in ihren Ozean. Ich widerstand und blieb in meinem Zimmer an Land. Wenige Zeit darauf war ein neues Wesen im Gefäß dieser Frau. Der Nabel stülpte sich aus der Kugel, der Nabel sah für mich aus wie ein Schnuller.
    Mutter war schwanger mit Marie. In meiner kindlichen Theorie ließ sie deshalb von mir ab, weil sie ein neues Kind im Bauch hatte. Widerwillig legte ich das Ohr daran. Spürte die subkutane Welle, die Marie durch ihre fötalen Bewegungen auslöste. Dieses Baby wollte auf die Welt, und zwar zu mir. Ich brauchte sehr lange, um einzusehen, dass Kinder in Bäuchen hausen, genau wie ungeborene Katzen. Dass das nichts Besonderes und auch nichts Ekeliges war, war mir nicht klar. Ich schämte mich dafür, diesen Bauch so angestarrt
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