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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman
Autoren: Haymon
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Doch hatte ich dort damals meinen Arbeitsplatz. Mein Job als Verkäuferin zwang mich zu dieser Position. Ihr bewegter Körper in den Armen eines Mannes, meines ersehnten Pauls, wand sich in meinem echsenhaft starren Blick, den ich durch den Operngucker fokussiert hielt.
    Meine Neugier hüllte ich gern in die Rauchschwaden einer Zigarette. Das wirkte nicht aufdringlich, sondern kühl. Meine Strenge verriet das dünne, zu einem Rattenschwänzchen gebundene Haar, es könnte geföhnt fülliger sein, um die Sinnlichkeit zu verstärken, die man geschwungenen Hüften, wohlgerundeten Busen, einem schlanken Hals und langen Armen zuschreibt. Mir liegt aber nichts am Korrigieren von Äußerlichkeiten.
    Liebe macht blind, heißt es. Daher wollte ich für Marie genau hinsehen und mir wie ihr die Augen für die Realität öffnen. Ich hatte die Kaufhausfenster aufgerissen und ihr zugewinkt. Das war ein Fehler gewesen. Sofort wurden drüben die Vorhänge zugezogen und wenige Minuten später wurde ich zum Gespräch in die Personalabteilung gebeten. Es habe eine Beschwerde gegen mich gegeben, da ich Bewohner des gegenüberliegenden Hauses belästigte. Ich leugnete den Sachverhalt. Nur der Operngucker verriet mich. Die Polizei verfolgte mich mit Klagsdrohungen meiner Schwester. Es stellte sich heraus, dass mein Arbeitsplatz für mich nicht geeignet war, da meine Abteilung in um ein paar Dezimeter zu geringem Abstand zur Wohnung meiner Schwester lag. Ich verlor wegen dieses lächerlichen Details einen guten Job. Eigentlich war ich durch Marie von Unglück verfolgt. Auf der Straße bildete ich mir oft ein, Maries Lachen zu hören. Es war hell, plätschernd und gurgelnd, der reine Spott.
    Der Hauch aus meinem Munde beschlug das Fenster, als ich mir klar wurde, dass Marie mich von hier gesehen haben musste, als ich meine Berufskleidung ablegte. Da drüben unten stand ich, Marie erst auf den zweiten Blick hinter Gardinen entdeckend. Die Ausdauer, mit der sie diesen Mann geküsst hatte, in Mantel und Schal und Hut, hätte ich ihr nicht zugetraut. Die Erkenntnis hatte eine einfrierende Qualität. Ich musste näher heran, um festzustellen, ob das wirklich meine Schwester war. Ich verfolgte das Paar. Lauerte ihnen auf und ging auf sie zu. Das Paar ignorierte mich. Langsam hob ich den Arm, und in der Langsamkeit verfestigend, formulierend und Gedanken ausstoßend, um mich ins Gesichtsfeld zu rücken, sprach ich die Leute an. Wenn ich daran denke, wird mir heute noch heiß, wie er seine Hände unter ihren Pulli geschoben hatte. Bei diesem Gedanken kribbelte mir die Frage nach Altersvorsorge in den Fingern und dass ich etwas gegen mein Single-Dasein zu unternehmen hätte. Dass Liebespaare so leicht wütend würden, wenn man sie beim Geturtel in der Öffentlichkeit störte, hätte ich nicht gedacht. War die Wut plötzlich aufschießendes Schamgefühl? Als ich erkannte, dass die Frau nicht Marie war, unterließ ich die Aufforderung, sie in Ruhe zu lassen, und tat selbst erbost und sagte zum Mann: „Verzeihen Sie, aber ich habe Sie mit meinem Mann verwechselt.“
    „Zum Glück bin ich Witwer“, sagte er und meine Betroffenheit erregte bei seiner Kokotte Heiterkeit, anstatt dass sie peinlich berührt oder zumindest traurig gewesen wäre.
    Obwohl ich nicht mehr rauche, schmeckt meine Zunge selchig. Für derartige Momente trage ich stets eine Zahnbürste mit mir herum. Ich hatte sie auch in Maries verwaistem Eigentum bei mir und trug sie ins Badezimmer.
    Ich putzte die Zähne, schrubbte die Mundhäute. Ich hörte den Chor der über dem Haus kreisenden Krähen. Als sich einer der dickschnabeligen Vögel auf dem Fensterbrett zu landen anschickte, wedelte ich mit den Armen, um diesen Schatten des Todes als Hirngespinst zu verscheuchen. Die Krähe flatterte davon. Ich hatte es mir angewöhnt, dunklen, modrig riechenden Blutreinigungstee zu mögen, um die Worte, auf die ich mich sofort einstimmte, aus dem Blut zu schwemmen. Scham. Wut. Schmerz. Lust. Bezeichnenderweise fand ich auch Teefilter in Maries Küche, und zwar ausgerechnet nicht neben oder unter, sondern über dem Kühlschrank wie bei uns zu Hause. Die Berührung des zarten Vlieses beruhigte mich und übertrug das Gefühl von Reinheit und Vertrautheit. Ich starrte mein Mobiltelefon an, nahm es auf, legte es wieder hin. Ich hatte sie hunderttausendmal angerufen. Im Spiegelschrank über dem Waschbecken fand ich Ohrenputzer.
    Die trockene Gefühligkeit der Wattestäbchen, mit denen ich meine Ohren
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