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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman
Autoren: Haymon
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ausstrich, erzeugte Gänsehaut. Danach kümmerte ich mich um die Nägel. Die Feile entnahm ich meinem Schminktäschchen. Die Messerspitze schob ich unter die Nägel und schabte den Trauerrand raus.
    Ich bestimme, was ich fühle und wer wann abkratzt, woran ich glaube und wo ich sündige. Ich will nicht Ursache für Maries Verschwinden sein, wenn schon, denn schon, dann das Verschwinden selber. Ich möchte eine saubere Geschichte, eine selbst geschriebene Biographie und keine Anamnese.
    Ich feilte die Fingernägel rund. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich in der Großmuttersprache betete. Da erhob ich mich und stellte mich an die Tür, schaute durch den Spion und lauschte auf Schritte. Ich vernahm das Klicken der Perlen, wenn sie durch die Finger liefen.
    Maries Porträt neben Pauls. Ich hatte die Seite aus dem Fachmagazin herausgerissen und nun fügte sich die Hochzeitsanzeige dazu. Glücklich sahen die beiden Wissenschaftler nicht aus. Ich spürte Genugtuung durch den allzu ernsten Ausdruck ihrer Gesichter. Sie hatten als Vortragende nichts zu lachen. Doch als Liebespaar würden sie vor den Altar treten. Der Termin war in ein paar Tagen. Und wo? In St. Michel. Es gibt viele St. Michels auf der Welt.
    Wenn Marie jetzt eingetreten wäre, hätte ich ihr gezeigt, dass sie ein grausamer Mensch ist. Hätte ihr nur den Spiegel hingehalten.
    Man muss sich den Mund grausamer Menschen nur einmal ansehen, wie den von Paul. Manche Münder erinnern einen an zusammengekniffene After. Wie aus so einem Mund das klassische „ich lieb dich“ klingt, konnte ich mir vorstellen. War es nicht Wahnsinn, an solchen Lippen zu hängen? Hatte ich wirklich Lust, für heiße Luft mein Leben wegzuschmeißen? Gar für meinen Weg über seine Leiche zu gehen? War kein Stolz in mir?
    Ich war müde und legte mich hin. Maries Mund schob sich vor mein inneres Auge. Sie bewegte die Lippen, öffnete den Mund. Die Lippen waren gespannt und platzten, Blut quoll in dickem Schwall aus dem Riss und die Zähne verfärbten sich rot. Ich öffnete die Augen, um nicht zu sehen.
    Das Babygeschrei im oberen Stock riss mich aus dem Halbschlaf. Schritte trommelten auf dem Plafond. Das Kind weinte, holte rhythmisch Luft, brüllte, holte Luft, schlug den Ton an und machte Beine. Ich hätte gerne eigene Kinder gehabt. Am liebsten jedoch den potentiellen Vater. Babys waren mir Mittel zum Zweck. Kleine Geschöpfe, die nicht davonlaufen können. Die Schritte wurden schneller und das Geschrei lauter. Ein Mann brüllte, eine Frau brüllte, anstatt das Baby zu stillen. Sie ließ ihr Kind wohl nicht absichtlich schreien. Wahrscheinlich gab es Streit. Ein Rumpeln, ein Klirren. Vielleicht hatte der Mann zu viel getrunken.
    Ich hatte Großvater betrunken zu Gesicht bekommen. Ich war oft zu Opa und Oma ins Bett geschlüpft. Das hat niemanden gestört, und ich war geborgen. Doch eines Tages, als ich sieben wurde und gerade das wöchentliche Bad nahm, begann Großmutter meine in der Küche liegende Wäsche wegzuräumen und bestand darauf, dass ich die Türe zum Bad zusperrte. Als Erklärung sagte sie: „Deine Mutter will das so.“ Mutter war mir so gut wie nicht vertraut und ich wunderte mich, wieso sie plötzlich über mich verfügen sollte. Doch ich gehorchte und bald wusste ich weshalb. Großvater kam besoffen nach Hause. Das Poltern der Schritte, das Gegröle, das Gejammere, dann das Geschrei der Großmutter, Handgemenge, das Aufklatschen von Händen auf Wangen. Schläge. Der Schmerzenschrei der Großmutter folgte. Ich stieg aus dem Wasser und riss die Tür auf. Großmutter raufte mit ihrem Mann, ich sah, wie er die Hände um ihren Hals legte. Ich schrie, so laut ich konnte. Er ließ los, nicht als er mich hörte, erst als er mich erblickte. Großmutter rang um Luft und stieß ihn von sich. Warf mir einen verachtungsvollen Blick zu, weil ich mich nackt zeigte, und stieß sofort einen Befehl aus, der alle Ängste überspielen sollte. „Ab ins Bett!“, röchelte sie. Ich schnappte das Handtuch. Der Befehl war ein Zeichen ihrer wiedergewonnenen Macht. Ich flüchtete, kroch ins Bett, zog mir die Decke über die Ohren. Hörte nichts mehr. Stellte mich tot. Schlief. Erwachte aber, als ich kalte Hände meine Oberschenkel betasten fühlte. Ich hielt den Atem an. Das Telefon klingelte. Die Großmutter rief ihren Mann. Der stinkende Alte ließ von mir ab. Trollte sich hinaus in die Küche.
    Großvater lebte fortan in der Küche und schlief auf dem Diwan. Ich vermied es, allein mit
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