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Schwere Wetter

Schwere Wetter

Titel: Schwere Wetter
Autoren: Hannes Nygaard
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kurzfristige Beschleunigung des Tempos
hatten den Abstand zu dem Mann anwachsen lassen.
    Stufe oder Rampe? Havenstein war mit dem Gedanken bei
dem Fremden, sodass er sich nicht entscheiden konnte. Mit dem rechten Bein war
er auf der Rampe, mit dem linken wollte er die Stufe nehmen. Dabei kam er ins
Stolpern, versuchte sich zu fangen, rutschte mit dem rechten Fuß ab und fiel
nach vorn. Er konnte seine Arme vorstrecken und den Sturz abfedern, sodass er
auf den Knien landete und sich schmerzhaft die Schienbeine an der Kante der
obersten Stufe stieß. Mit den Händen stützte er sich ab. Das alles geschah in
Bruchteilen von Sekunden.
    Erneut drehte er den Kopf nach hinten und sah in das
Gesicht des Mannes, in die dunklen Augen, die ihn kalt musterten. Sie schienen
Havenstein zu vermessen, jedes Detail des am Boden hockenden Mannes
aufzunehmen. Kein Muskel zuckte in dem Gesicht, kein Lidschlag verriet etwas
über die Gedanken des Verfolgers. Die Lippen waren zu einem schmalen Strich
zusammengepresst. Nur dieses Detail zeugte von der gewaltigen Anspannung des
Fremden.
    Havenstein wollte sich aufraffen, wurde aber durch
eine Bewegung des Mannes abgelenkt. Er sah, wie der Fremde ohne jede Hast den
Zipfel seiner Jacke zur Seite zog, in aller Seelenruhe einen schweren Revolver
hervorzog und auf ihn zielte.
    Den Schuss hörte Robert Havenstein nicht mehr.
    * * *
    Es hatte nur Minuten gedauert, bis sich die Bluttat in
der kleinen lebhaften Stadt herumgesprochen hatte. Vor dem Eingang der
Buchhandlung hatte sich eine dichte Menschentraube gebildet. Erregt wurden
Mutmaßungen darüber ausgetauscht, was sich in dem Geschäft wohl zugetragen
hatte. Dass dort ein Mensch kaltblütig erschossen worden war, galt als
gesichert. Das geifernde Interesse an der Sensation hielt sich die Waage mit
dem Entsetzen, das sich in manche Gesichter gegraben hatte.
    Hier, bei uns, da gibt es so etwas nicht. Das
geschieht immer nur woanders – irgendwo in der Ferne. Auch das ist schon
unfassbar.
    Es hatte nur Minuten gedauert, bis sich zwei
Streifenwagen der nahen örtlichen Polizeizentralstation mit zuckendem Blaulicht
und gellendem Martinshorn den Weg durch die Fußgängerzone gebahnt hatten. Der
Rettungswagen und der Notarzt waren genauso zügig am Tatort eingetroffen. Jetzt
standen ein älterer unscheinbarer VW LT und zwei VW Passat vor der Tür, auf deren Dächern
ein mobiles Blaulicht befestigt war.
    Hauptkommissar Thomas Vollmers hatte sich an den
Notarzt gewandt. Der junge Mediziner stand im Eingang des Geschäfts und wischte
sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
    »So einen Einsatz hatten wir noch nie«, gestand der
Arzt.
    »Können Sie schon etwas sagen?«, fragte Vollmers. Der
Leiter des K1, das im Volksmund vereinfacht »die Mordkommission« genannt wird,
von der zuständigen Bezirkskriminalinspektion Kiel war umgehend mit seinen
Mitarbeitern nach Eckernförde gefahren. Er war fast gleichzeitig mit den
Beamten des K6, der Spurensicherung, eingetroffen. Die Kriminaltechniker hatten
einen Sichtschutz vor dem Eingang und den Fenstern des Ladens aufgebaut und
gingen, in ihren weißen Ganzkörperschutzanzügen gewandet, professionell ihrer
Arbeit nach.
    »Der Mann muss sofort tot gewesen sein«, sagte der
Arzt. »Wie ich schon sagte – das ist ein außergewöhnlicher Einsatz. Ich kann
nicht viel dazu sagen. Es sieht so aus, aus hätte man zwei Schüsse auf das
Opfer abgegeben. Einen in den Kopf, den zweiten ins Herz.«
    Der Arzt sah an Vollmers vorbei, sagte: »Entschuldigung«, und zwängte sich am Hauptkommissar vorbei. »Ich muss mich um
die eine Frau vom Personal kümmern«, erklärte der Mediziner.
    Vollmers strich sich mit der Hand über den gepflegten
weißen Bart. »Hmh«, knurrte er dabei. Aus mehreren Schritten Abstand sah er auf
das Opfer.
    Havenstein hieß der Mann, hatte die Filialleiterin der
Polizei gesagt. Man kannte ihn als Kunden.
    »Wissen Sie, wo er wohnt?«, fragte Vollmers die
schlanke Frau.
    »Moment«, erwiderte sie. Mit zittrigen Fingern gab sie
etwas in den Computer ein und nannte dann die Anschrift.
    »Wo ist das?«
    Verena Holl, so hieß die Frau, erklärte dem Beamten
den Standort der Wohnung direkt am Strand.
    »Haben Sie noch mehr Informationen gespeichert?«
    Frau Holl nickte. »Robert ist der Vorname.« Sie nannte
eine Festnetz- und eine Mobilfunknummer.
    Vollmers wählte die Mobilnummer an und musste
schmunzeln, als der Kriminaltechniker, der sich gerade mit dem Toten
beschäftigte, bei
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