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Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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nur. Oder lag es an etwas ganz anderem?
    Sie legte sich auf das schmale Bett und schloss die Augen. Vielleicht würde sie ja heute einfach einschlafen. Schließlich war sie um sechs aufgestanden und hatte den ganzen Tag im Wald kartiert. Aber sobald sie die Augen schloss, zog die Szene auf der Wildwiese an ihr vorüber. Xaver, der aus dem Wald gestürmt kam, das Gewehr an der Seite, die irren Augen starr auf sie gerichtet. Ein Waldschrat, dachte sie. Das hatten die letzten zwanzig Jahre aus ihm gemacht. So alterte man hier. Wie die anderen wohl heute aussahen? Lukas? Rupert? Die ganze Gollas-Familie. Würde sie denen auch über den Weg laufen? Wie sollte sie weiter vorgehen? Einfach weitermachen und hoffen, dass ein Wunder geschah?
    Sie überdachte die letzten Monate, vor allem das Horrorwochenende im April. Drei Tage und Nächte hatte sie in der Intensivstation gesessen und gebetet, dass ihre Mutter den Selbstmordversuch überleben würde. Sie hatte sich vor Angst übergeben. Sie hatte vor Verzweiflung geweint. Und irgendwann war diese Wut in ihr hochgestiegen. Das Leben ihrer Mutter war ein Fiasko. Und ihr eigenes? Seit über zwei Jahren plagten sie diese Asthmaanfälle. War an der Theorie von Herrn Venner-Brock etwas dran, dass das alles eine psychische Ursache haben könnte? Hätten die Anfälle dann nicht schon einsetzen müssen, als sie acht Jahre alt war? Oder kurz nach dem Verschwinden ihres Vaters? Warum erst so viele Jahre später?
    Aber sie hätte sich kein Praktikum in Waldmünchen organisiert, nur weil sie manchmal Atemnot bekam. Der Auslöser war ihre Mutter gewesen, nachdem Anja sie in letzter Sekunde mit einer Überdosis Schlaftabletten in die Notaufnahme von Großhadern gebracht hatte. Sie wird nicht sterben, ohne erfahren zu haben, was mit ihrem Mann geschehen ist, hatte Anja sich geschworen. Sie würde ihren Papa suchen. Und wenn es noch so sinnlos war.
    Sie überdachte den nächsten Tag. Am Morgen musste sie erst einmal im Büro vorbeifahren und ihre Datenblätter ablegen. Um halb neun hatte Forstamtsleiter Grossreither einen Termin mit irgendwelchen chinesischen Holzkunden im Hochbrunner Gemeindewald, zu dem sie ihn begleiten sollte. Die Chinesen wollten sich Buchenpolter anschauen. Sie hatte wenig Lust dazu. Sie empfand es als unangenehm, mit Grossreither zu arbeiten, denn es war kein Geheimnis, was der Mann davon hielt, dass neuerdings Frauen in Forstämtern auftauchten. Andererseits sollte sie sich vielleicht besser schon jetzt an derartige Chefs gewöhnen. Danach würden sie wieder kartieren. Obermüller war für morgen bestellt. Und ausgerechnet in Faunried. Der Zufall hatte gewollt, dass Xaver ihr am ersten Tag über den Weg gelaufen war. Würde das jetzt so weitergehen? Würde sie auch den anderen begegnen? Und was versprach sie sich davon?
    Sie lauschte dem Elfuhrläuten der Kirche. Als es halb zwölf schlug, war sie noch immer hellwach. Sie war versucht, eine von den Schlaftabletten zu nehmen, die sie nach der Katastrophe mit ihrer Mutter im Haus eingesammelt und damals nicht restlos entsorgt hatte. Ein paar davon für Notfälle griffbereit zu haben konnte ja wohl nicht schaden. Aber sie entschied sich anders, erhob sich, ging zu dem kleinen Tisch am Fenster, der ihr als Schreibtisch diente, und sortierte ihre Datenblätter. Sie überschlug die Zeit, die sie brauchen würden, um den Leybachwald zu kartieren. Ein paar Tage wären es bestimmt noch.
    Dann stutzte sie. Was hatte sie auf Blatt 25 eingetragen? Sie verglich die Daten mit den Blättern 24 und 26 und schaute sich dann wieder die 25 an. Die Bodenschichtung war auffällig anders als die der näheren Umgebung. Sie suchte die Stelle auf dem Kartenraster und überlegte, woran die Abweichung liegen konnte. Dann wurde ihr klar, was die nächstliegende Erklärung dafür war: Sie hatte gepatzt. Kein Wunder. Es war die Probe, die Obermüller kurz vor Xavers Auftauchen gezogen hatte. Hatte sie den Bohrstock überhaupt richtig angeschaut? Sie wusste es nicht mehr. Sie erinnerte sich nur, dass sie ziemlich durcheinander gewesen war. Gab es möglicherweise noch mehr fehlerhafte Profile?
    Sie fluchte leise. Sie konnte ja wohl keine verpatzten Proben abliefern. Sie sonderte das Datenblatt aus, malte ein Fragezeichen an den oberen Rand, legte es zuoberst auf den Stapel und verstaute es in ihrer Tasche. Sie würde morgen eine neue Probe ziehen und die Blätter erst am Abend abgeben. Dann war die Müdigkeit auf einmal da, und sie versank erschöpft
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