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Schwarzer Sonntag

Schwarzer Sonntag

Titel: Schwarzer Sonntag
Autoren: Thomas Harris
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überquerte den Nordpol.
Die Wale wärmten sich in der arktischen Sonne. Sie sahen das Luftschiff erst, wenn es schon beinahe über ihnen war. Dann tauchten sie weg. Ihre Schwanzflossen hoben sich in einer Gischtfontäne, und sie glitten unter ein blaues Eisgesims in der arktischen See. Wenn Lander aus seiner Gondel hinunterblickte, konnte er die Wale unter dem Eis im Wasser schweben sehen. An einem kühlen blauen Ort, wo es keinen Lärm gab.
Dann war er über dem Pol, und der Magnetkompaß spielte verrückt, und die Sonnenaktivität störte den Empfang des Drehfunkfeuers. So mußte er sich, mit Fletcher am Höhensteuer, nach der Sonne orientieren, während die Flagge an ihrem beschwerten Speer auf das Eis hinunterflatterte.
    »Der Kompaß«, sagte er, als er im Schlafzimmer seines Hauses aufwachte. »Der Kompaß!«
»Der Richtstrahl von Spitzbergen, Michael«, sagte Dahlia und legte die Hand auf seine Wange. »Ich bringe dir dein Frühstück.«
Sie kannte den Traum. Sie hoffte, er werde oft von den Walen träumen. Dann war er ruhiger.
Lander hatte einen schweren Tag vor sich, und sie konnte ihn nicht begleiten. Sie öffnete die Vorhänge und ließ das Sonnenlicht herein.
»Ich wünschte, du brauchtest da nicht hinzugehen.«
»Ich sage dir doch«, antwortete Lander, »wenn du eine Pilotenlizenz hast, wirst du scharf überwacht. Wenn ich nicht erscheine, schicken sie einen Sachbearbeiter von der Fürsorgestelle für Kriegsteilnehmer mit einem Fragebogen hier heraus. Er hat ein Formular. Und darauf steht ungefähr folgendes: ›A. Charakterisieren Sie den Zustand der häuslichen Umgebung. B. Macht der Betreffende einen niedergeschlagenen Eindruck?‹ In diesem Stil. Und das geht dann ewig so weiter.«
»Du wirst damit schon fertig.«
»Ein Anruf bei der Federal Aviation Agency, eine kleine, idiotische Andeutung, daß ich vielleicht etwas labil bin, und schon ist es passiert. Dann kriege ich Startverbot. Und was ist, wenn so ein Sachbearbeiter einen Blick in die Garage wirft? « Er trank seinen Orangensaft. »Außerdem möchte ich die Beamten noch einmal sehen.«
Dahlia stand am Fenster. Die Sonne schien warm auf ihre Wange und auf ihren Hals. »Wie fühlst du dich?«
»Du meinst, ob ich heute verrückt bin? Nein, wenn du es genau wissen willst, ich bin es nicht.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Quatsch, natürlich hast du das gemeint. Aber es ist doch ganz einfach: ich gehe mit einem von ihnen in ein kleines Büro, und wir machen die Tür hinter uns zu, und dann erzählt er mir, was die Regierung alles für mich tun will.«
Sie hatte das Gefühl, daß irgend etwas hinter seinen Augen lauerte.
»Also gut, bist du heute verrückt? Wirst du alles verderben? Wirst du einen Beamten von der Kriegsteilnehmerfürsorge an der Gurgel packen und ihn umbringen? Dann kannst du in einer Zelle sitzen und masturbieren und singen: ›Gott segne Amerika und Nixon.‹«
Das waren gleich zwei Spitzen auf einmal. Sie hatte sie zuvor getrennt ausprobiert, und jetzt beobachtete sie ihn, um zu sehen, wie sie zusammen wirkten.
Lander hatte ein lebhaftes Erinnerungsvermögen. Wenn er sich im Wachzustand erinnerte, zuckte er oft zusammen. Und wenn er sie in seinen Träumen wieder erlebte, schrie er manchmal im Schlaf.
Masturbation: der nordvietnamesische Gefangenenwärter, der ihn in seiner Zelle dabei ertappt hatte und ihn zwang, es vor den anderen zu tun.
»Gott segne Amerika und Nixon«: das mit der Hand gemalte Schild, das der Air Force-Offizier, als sie aus nordvietnamesischer Gefangenschaft heimkehrten, bei ihrer Ankunft auf dem Luftstützpunkt Clark auf den Philippinen an das Fenster der C-141 hielt. Die Sonne schien durch das Papier, und Lander, der auf der anderen Seite des Ganges saß, hatte die Aufschrift rückwärts gelesen.
Sein Blick war verschleiert, als er Dahlia ansah. Sein Mund öffnete sich leicht, und seine Züge wirkten plötzlich schlaff und müde. Dies war der gefährliche Augenblick. Die Sekunden dehnten sich, wurden zu einer Ewigkeit. Unterdessen tanzten die Staubkörnchen in der Sonne, umtanzten Dahlia und sanken auf die kurze, häßliche Schrotflinte neben dem Bett herab.
»Du brauchst sie nicht einzeln zu erledigen, Michael«, sagte sie leise. »Und du brauchst das andere nicht selbst zu tun. Ich möchte es für dich tun. Ich tue es von Herzen gern.«
Sie sagte die Wahrheit. Lander kannte sie gut genug, um das zu wissen. Sein Blick wurde wieder klar, und wenig später hörte er sein Herz nicht mehr
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