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Schwarzer Mond: Roman

Schwarzer Mond: Roman

Titel: Schwarzer Mond: Roman
Autoren: Dean R. Koontz
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die braune Tüte festhielt. Er gestikulierte beim Sprechen mit der anderen Hand, und sie folgte seinen Bewegungen mit den Augen. Die Handschuhe jagten ihr jetzt keine Angst mehr ein.
    Sie konnte sich überhaupt nicht erklären, warum sie vorhin bei diesem Anblick in wilde Panik geraten war.
    »Ist schon in Ordnung. Ich habe hier auf Sie gewartet, um mich zu entschuldigen. Ich bin erschrocken und ... und es war ein ungewöhnlicher Morgen«, erklärte sie und wandte sich rasch ab. Über die Schulter hinweg rief sie ihm noch zu: »Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«
    Obwohl ihre Wohnung nicht weit entfernt war, zog sich der Heimweg entsetzlich in die Länge, und sie hatte das Gefühl, eine schier endlose Strecke grauen Pflasters bewältigen zu müssen.
    Was ist nur mit mir los?
    Sie fror, und das lag nicht an dem kalten Novembertag.
    Sie wohnte am Beacon Hill, in der ersten Etage eines dreistöckigen Hauses, das im 19. Jahrhundert einem Bankier gehört hatte. Sie hatte diese Wohnung gemietet, weil ihr die sorgfältig restaurierten Merkmale der damaligen Bauweise so gut gefielen: kunstvolle Deckenornamente, Medaillons über den Türrahmen, Mahagonitüren, große Flügelfenster, zwei Kamine mit glänzenden Marmormänteln in Wohn-und Schlafzimmer. Die Räume strahlten Kontinuität, Solidität, Dauerhaftigkeit aus.
    Ginger schätzte Stabilität und Beständigkeit über alles; vielleicht war das eine Reaktion auf die Tatsache, dass sie schon mit zwölf Jahren ihre Mutter verloren hatte.
    Obwohl es in der Wohnung warm war, fröstelte sie immer noch, während sie die Lebensmittel im Brotkasten und im Kühlschrank unterbrachte. Sie ging ins Bad und betrachtete sich aufmerksam im Spiegel. Sie war sehr bleich. Der gehetzte, gequälte Ausdruck in ihren Augen gefiel ihr gar nicht.
    »Was war da draußen mit dir los, du shneek?« fragte sie ihr Spiegelbild. »Du warst ja richtig meschugge, lass dir das von mir sagen. Völlig farfufket. Aber warum? Häh? Du bist doch eine so tolle Ärztin, also sag es mir. Warum?«
    Noch während sie ihrer eigenen Stimme lauschte, die von der hohen Decke des Badezimmers widerhallte, wusste sie, dass sie in ernsthaften Schwierigkeiten war. Jacob, ihr Vater, war aufgrund seiner Herkunft und seines Erbgutes Jude gewesen, und das mit Stolz, aber er war kein frommer Jude gewesen. Er hatte die Synagoge nur selten besucht und die Feiertage in jenem verweltlichten Sinne begangen, in welchem viele Christen Ostern und Weihnachten feiern. Und Ginger war vom Glauben noch einen Schritt weiter entfernt als ihr Vater, denn sie bezeichnete sich selbst als Agnostikerin. Und während Jacobs Judentum ein integraler Bestandteil von ihm gewesen war und bei allem, was er tat und sagte, offenbar wurde, war das bei Ginger nicht der Fall. Wenn man sie aufgefordert hätte, sich selbst kurz zu beschreiben, so hätte sie geantwortet: »Frau, Ärztin, arbeitswütig, politisch an keine Partei gebunden« und anderes mehr, bevor es ihr eingefallen wäre hinzuzufügen: »Jüdin.« Jiddische Ausdrücke gebrauchte sie nur dann, wenn sie Probleme hatte, wenn sie in höchstem Maße besorgt oder traurig war - so als hätte sie im Unterbewusstsein das Gefühl, als besäßen diese Wörter irgendeinen talismanartigen Charakter, als seien es Zauberworte gegen Unglück und Katastrophen.
    »Durch die Straßen zu rennen, deine Einkäufe fallen zu lassen, einfach zu vergessen, wo du bist, Angst zu haben, wenn überhaupt kein Grund dazu besteht, sich aufzuführen wie ein regelrechter farmishteh!« schimpfte sie mit ihrem Spiegelbild.
    »Wenn die Leute sehen, wie du dich aufführst, werden sie dich mit Sicherheit für einen shikker halten, und die Leute gehen nicht zu Ärzten, die Trunkenbolde sind. Nu?« Die Zauberkraft der alten Wörter wirkte auch diesmal -nicht sehr stark, aber doch genug, um etwas Farbe in ihre Wangen zu bringen und ihren starren Blick etwas zu lösen. Sie hörte auf zu zittern, aber ihr war immer noch kalt.
    Sie wusch sich das Gesicht, bürstete ihr silberblondes Haar und zog Pyjama und Morgenrock an; dienstags erlaubte sie sich immer diese nachlässige Kleidung. Sie ging in das kleine Gästezimmer, das sie als Arbeitszimmer benutzte, nahm das abgegriffene enzyklopädische medizinische Wörterbuch vom Regal und schlug es beim Buchstaben >F< auf.
    Fugue.
    Sie wusste genau, was dieses Wort bedeutete, und konnte sich selbst nicht erklären, warum sie das Lexikon eigentlich zu Rate zog, nachdem sie ihm doch nichts Neues
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