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Schule versagt

Schule versagt

Titel: Schule versagt
Autoren: Inge Faltin , Daniel Faltin
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befriedigend für ihn gewesen und außerdem war heute noch kein »Blut« geflossen. Herr M. hatte gerade erst die Witterung aufgenommen. So saßen wir wie zum Abschuss freigegeben auf unseren elektrischen Stühlen. »Mara!«,strahlte Herr M., und in dem Moment hörte man die Steinlawinen von den Herzen der Überlebenden fallen. Ich erinnere mich noch sehr genau an die unglaubliche Erleichterung, die mich durchflutete, wenn nicht mein Name genannt wurde und der Revolver nur »klick« machte. Nur bei Mara fing das Herz an zu pochen, als wolle es zerspringen. »Ich glaube nicht, dass ich das kann   …«, meinte sie unsicher. Sie war mit Mathe auf Kriegsfuß. Ihre Stärken lagen in anderen Fächern. Diese Tatsache, gepaart damit, dass Mara schüchtern war und kaum Rückhalt in der Klasse oder im Elternhaus hatte, machte sie zum perfekten Jagdgut.
    »Ahhhh!« Ein langer Atemzug von Herrn M. folgte, der das Odeur der Angst gierig einsog. »Das werden wir dann sehen«, sagte der kleine Mann mit einem lustvollen Lächeln im Gesicht. Langsam stand Mara auf und ging zur Tafel, was hatte sie schon für eine Wahl. Sie hätte sich weigern können. Aber mit welcher Konsequenz? Ihr wäre zwar die Demütigung erspart geblieben, exponiert vor der ganzen Klasse an der Tafel zu scheitern, aber dieses Verhalten hätte einen nicht enden wollenden Monolog Herrn M.s nach sich gezogen, bei dem er immer lauter und aggressiver geworden wäre, mit dem Einbestellen der Eltern und einer sofortigen Sechs im Notenheft gedroht hätte. Dieser Monolog mündete meist unweigerlich in sein Lieblingsthema: Wie schwer er es doch als Kind immer gehabt hatte und wie gestraft er jetzt sei mit uns unwilligen, faulen Schülern.
    Die zweite Option war, den Stier bei den Hörnern zu packen, an die Tafel zu gehen, zu hoffen, dass die Aufgabe doch lösbar war und die gefürchtete Sechs dann nicht im Notenbuch verewigt wurde. Doch es war nicht nur die eigene Leistung bzw. Nicht-Leistung, die zur Schau gestellt wurde, es waren auch die körperlichen und äußeren Merkmale der Schüler und Schülerinnen. Anerkennung und Dazugehörigkeit sind äußerst wichtig im Schülerleben. Was es bedeutete, wenn man an der Tafel vorrechnete, war auch klar. Der Hüftspeck von Sarah, die uncoolen Turnschuhe von Sebastian und der gammlige Pullover von Außenseiter Paul wurden jedem und gerade den Mobbingspezialisten der Klasse in perfekter Manier vorgeführt. Es war ein unfreiwilliges Schaulaufen, bei dem einem die Angst die Hirnwindungen verstopfte. Wenn man Glück hatte und wirklich mit Mathematik etwas anfangenkonnte, gab es eine Chance, dass ein Tropfen Eingebung durch die eingefrorenen Hirnstränge rann und man die Aufgabe lösen konnte. Aber das vorherrschende Gefühl war Angst. Angst zu scheitern, Angst vor der unweigerlichen Note, Angst davor, dass Herr M., wie er es oft tat, gerade eben jene Merkmale der Schüler vor versammelter Klasse exponierte und somit eine Steilvorlage für die Mobber lieferte. Eine solche Steilvorlage, das war die Faustregel, sicherte einem mindestens zwei volle Tage, meist eine Woche lang die ungeteilte Aufmerksamkeit dieser Hetzer. »Der Dicke«, »die Dumme«, »Was hat die schon wieder an!« und »Was hat der für ’ne peinliche Frisur!« oder »die Schlampe« konnten sich vor Freude nicht mehr halten, wenn sie wieder mal an der Tafel rechnen durften. Und Herr M. wusste Bescheid. Er kannte die feindschaftlichen Verhältnisse in unserer Klasse ganz genau. Er wusste, wer schwach und provozierbar war, wusste, für welche Stimmung die Mobber und Hetzer sorgten.
    Mit zitternder Hand griff Mara nach der Kreide. Die Tafelspiele wurden immer zu Anfang einer jeden Stunde gespielt. Herr M. wusste genau, warum. Mit einer Erlösung durch die Klingel war nicht zu rechnen. Mara betrachtete die Aufgabe an der Tafel und wir, die übrigen Schüler, machten uns übereifrig daran, sie zu lösen. Warum? Ganz einfach: Wenn ein Kandidat an der Tafel vernichtet worden war, und das war nun einmal unausweichlich und der ganze Sinn der Übung, würde das russische Roulette mit einem neuen Kandidaten weitergespielt. Wer überleben wollte, hatte besser eine Antwort parat. Mara betrachtete die Aufgabe, überlegte, betrachtete und überlegte. Man konnte ihr Herz bis zum anderen Ende des Klassenraums schlagen hören. Sie dachte mit Sicherheit weniger über die Aufgabe nach als darüber, was der Rest der Klasse wohl über sie dachte. Oder vielleicht dachte sie auch darüber
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