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Schule versagt

Schule versagt

Titel: Schule versagt
Autoren: Inge Faltin , Daniel Faltin
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Seiten seines Hirns nutzt, das Wissen praktisch anwendet, abstrahiert und auf andere Lebensbereiche transformiert. Interessant ist auch, dass das meiste des auswendig gelernten Wissens exakt bis zum Hinlegen des Stiftes nach dem Schreiben einer Klausur im Kopf bleibt. Danach macht es Platz für neu auswendig zu Lernendes. Die Schule ist im Endergebnis darauf geeicht, keine eigenständig denkenden Menschen auszubilden, sondern Mensch-Maschinen, die, wie ein Computer, lebensfremde Aufgaben mittels auswendig gelernter Patentanwendungen bewältigen sollen. Für Menschen, die ihrer Natur gemäß kreativ und visionär sind, eine höchst unbefriedigende Aufgabe.
     
    Doch neben einem obskuren Lehrplan und kontraproduktiven Lern- und Lehrmethoden gibt es noch einen anderen dominierenden Faktor, der konstruktives Arbeiten, Denken und Lernen ad absurdum führen kann: die Lehrerpersönlichkeit. Herr M. war der pädagogische Koordinator der Schule und somit qua Amt eine Spitzenkraft, wenn es darum ging, Schülern zu helfen, sie zu beraten und zu fördern. Wenn kein anderer Lehrer sich dazu imstande sah, dieser Mann musste es nun wirklich können. Einen guten Ruf hatte er allerdings nicht. Schon bevor Herr M. seinen dunklen Schatten auf uns werfen sollte, hatten wir allerhand über ihn gehört. »Arschloch«, »hinterfotzig« und »Dreckschwein« waren nur einige der Bewertungen, die fielen, wenn man Schüler nach ihm fragte. Herr M. hatte eine besondere Vorliebe, von der wir schon sehr früh erfahren sollten. Sie bestand darin, seine Schüler bewusst und zielgenau zu demütigen, sich an ihrer Unsicherheit und der Angst, die er in ihnen erzeugte, zu laben. Er konnte die Angst seiner Schüler förmlich riechen und war ein Meister der psychischen Vergewaltigung oder fachlich: des Mobbings. Mobbing findet jeden Tag in deutschen Schulen statt. Und die »Vergewaltiger« sind nicht nur Schüler, die über andere Schüler herziehen, sondern auch Lehrer. Die Folterinstrumente von Herrn M. waren Tafel und Notenbuch und seine Rüstung war sein Status, der ihm Macht und ein lebenslanges gesichertes Einkommen garantierte.
    Betrat Herr M. unsere Klasse, war abrupt Ruhe. Herr M. hatte meist äußerst schlechte Laune, war immer pünktlich und knallteseinen schwarzen Aktenkoffer demonstrativ auf den Lehrertisch   – meist ohne auch nur ein Wort zu sagen. Seine Dienstkleidung bestand aus einer schlabbrigen Jeans, schwarzen Slippern und einem billigen Hemd, welches sich über seinen Bauch spannte. Seine kleinen Augen waren meist hasserfüllt. Er kramte sein Notenbüchlein hervor, das Mathebuch und ein paar Blätter Papier. Alles verteilte er penibel auf dem Tisch und stellte dann seine Tasche auf den Boden. Es war eine Routine, welche sich über die Jahre verfestigt hatte, und sie verlief immer nach demselben Schema. Niemand wagte etwas zu sagen, zu groß war die Angst bei allen, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Alle waren angespannt. Die Hände wurden kälter, die Atmung wurde flacher, die Nervosität stieg. Mit seinen Blicken durchbohrte Herr M. uns und quetschte ein aggressives »Morgen« heraus. Ein zaghaftes »Morgen« tropfte ihm von uns entgegen. Herr M. schaute uns einige Zeit an, dann stand er auf, ging zur Tafel und griff nach der Kreide. Mein Magen zog sich jedes Mal zusammen, wenn ich den kleinen Mann an der grünen Schiefertafel seine endlosen Gleichungen schreiben sah. Es bedeutete Terror, gezielten Terror gegenüber seinen Schülern. Ich versuchte, schnell die Aufgabe abzuschreiben   – wie jeder andere auch. Es zählte jede Sekunde, wer schnell abschreibt, kann schnell eine Lösung finden.
    »Aaaan die Tafel!«, sagte Herr M., drehte sich um und zog seine berüchtigte Grimasse, als sein Blick durch die Klasse wanderte. Nicht mich, bitte heute nicht mich, flehte ich innerlich und mein Herz fing an zu rasen. Ich war gar nicht so schlecht in Mathe   – später in Klasse 12 hatte ich sogar 14   Punkte im Zeugnis   –, doch Herrn M.’s Unterricht hatte mit Gleichungen vergleichsweise weniger zu tun. Erfreut stellte er fest, dass keiner seiner Zöglinge es wagte, ihn anzuschauen. Tatsächlich versuchten wir so außerordentlich damit beschäftigt zu sein, die Aufgabe zu lösen, dass Herr M. uns unmöglich aufrufen konnte. Dabei war die Angst einiger Schüler unbegründet. Herr M. nahm nämlich niemals die Leute dran, die sich meldeten, oder diejenigen, welche die Aufgabe hätten lösen können. Nein, das wäre ja zu wenig
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