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Schuld währt ewig

Schuld währt ewig

Titel: Schuld währt ewig
Autoren: Inge Löhnig
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sie ja Übung. Ludwig. Thorsten. Nein, jetzt nicht. Eines nach dem anderen. Erst warm werden. Erst diesen Tag verdauen. Erst kapieren, was geschehen war. Alles auf einmal war zu viel. Es war wie ein Strudel, der sie in die Tiefe ziehen wollte. Sie kämpfte dagegen an, stemmte sich hoch und stieg aus der Wanne.
    Ein paar Minuten später saß sie dick vermummt auf dem Sofa, den Becher mit dem Eggnog in der Hand, die Füße hochgezogen. Hamlet lag vor dem Kaminofen. Und einen Augenblick dachte sie, dass Herr Kater sich deshalb nicht blicken ließ. Herr Kater. Er fehlte ihr so sehr. Wie hatte Ulrike das nur tun können? Wieder traten ihr Tränen in die Augen.
    Der Eggnog zeigte Wirkung, ihr wurde warm, der Alkohol stieg ihr zu Kopf, sie wurde ruhiger. Der Orkan, der in ihr tobte, schwächte sich auf Sturmstärke ab. Nach einigen weiteren Schlucken war er zu einem lauen Lüftchen geworden.
    Niklas kam herein und setzte sich zu ihr. Gemeinsam starrten sie ins Feuer, das hinter der Scheibe brannte. Irgendwann fiel Susanne der Satz über das Schicksal ein, den Niklas gesagt hatte: Wie soll man weiterleben mit dem Wissen, dass unser Leben der Willkür einer Macht unterworfen ist, auf die wir keinen Einfluss haben und die jederzeit zuschlagen kann? Man kann sie nicht besänftigen, nicht bändigen, nicht friedlich stimmen. Weder durch Glauben noch Opfergaben noch Wohlverhalten. Sie macht uns ohnmächtig, und dagegen kämpfen wir an, indem wir nicht an das Schicksal glauben wollen. Wir suchen Erklärungen.
    Das hatte er zwar im Zusammenhang mit Evelyn gesagt, doch er hatte etwas anderes gemeint. Etwas, das mit ihm zu tun hatte, mit seinem Entschluss, alles aufzugeben und in einen ehemaligen Schweinestall zu ziehen, um alte Möbel zu restaurieren. Sie fragte ihn danach.
    Er lachte. »Du bist eine gute Beobachterin.« Doch dann wurde er ernst. »Du hast recht. Ich habe auch mich gemeint. Es hat eine Sekunde in meinem Leben gegeben, die alles verändert hat. Ein Wink des Schicksals mit dem Zaunpfahl.
    Es war ein schöner Sommertag. Ich war mit dem Auto unterwegs nach Salzburg zu einer Tagung. Kurz vor Bad Aibling ist mir ein Geisterfahrer entgegengekommen. Ein alter Mann. Wie er mich angesehen hat … Diesen Blick werde ich nie vergessen, obwohl er nur eine Tausendstelsekunde gedauert haben kann. Panische Hilflosigkeit. Ich konnte gerade noch das Steuer herumreißen, bin dann zwischen zwei Lastern auf der rechten Spur hindurchgeschossen, da waren vielleicht drei Millimeter Luft dazwischen, und bin auf dem Standstreifen irgendwie zum Stehen gekommen. Der Fahrer hinter mir hat das nicht geschafft. Sein Auto ging bei dem Unfall in Flammen auf. Vater, Mutter und zwei Kinder waren auf der Stelle tot. Und der alte Mann auch. Von einer Minute auf die andere.
    Natürlich stand ich unter Schock, aber ich war plötzlich so klar im Kopf wie niemals zuvor. Tu dies, mach das. Mach was aus dir. Werde Zahnarzt, da verdienst du gut. Immer habe ich getan, was von mir erwartet wurde, und nie das, was ich wollte. Doch wenn man glücklich werden will oder wenigstens einigermaßen zufrieden, dann darf man nicht gegen sich leben. Seit ich das nicht mehr mache, geht es mir gut. Beim nächsten Treffen mit dem Schicksal bin ich mir nichts schuldig.«
    Sich nichts schuldig zu sein, dieser Gedanke gefiel Sanne.
    »Ruhe dich aus. Vielleicht kannst du ein wenig schlafen.« Niklas stand auf und ging aus dem Zimmer. Sie hörte ihn in der Küche rumoren, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Das Feuer knisterte. Irgendwann klingelte es an der Tür. Sie wollte nicht aufstehen, wollte niemanden sehen, mit niemandem reden. Außer vielleicht mit Niklas. Sie hörte Schritte im Flur, dann das Quietschen der Haustür, gedämpfte Stimmen. Die Wohnzimmertür öffnete sich. Thorsten kam herein.
    Thorsten!
    Müdigkeit und Lethargie wichen schlagartig. Sanne fuhr hoch. So etwas von unverfroren. »Was willst du hier?«
    Er blieb stehen, hob die Hände wie zur Beschwichtigung. »Sehen, wie es dir geht. Du läufst einfach weg und meldest dich tagelang nicht. Ich habe mir Sorgen gemacht.«
    »Du willst sehen, wie es mir geht? Du? Du hast dir Sorgen gemacht? Sorgen!«
    Er lächelte unsicher. »Ich verstehe nicht …«
    »Oder geht es dir nicht in Wahrheit darum, dich zu vergewissern, dass es mir beschissen geht? Das willst du jetzt mit eigenen Augen sehen. Oder? So ist es doch! Hat die Gehirnwäsche funktioniert? Geht es der bösen Sanne mies? Diese Sanne, die die
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