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Schuld währt ewig

Schuld währt ewig

Titel: Schuld währt ewig
Autoren: Inge Löhnig
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ihren Magen.
    Wie jedes Jahr um diese Zeit.
    Sanne schloss die Augen. Der Geruch ihrer Werkstatt nach Fernambuk- und Brasilholz, nach Kolophonium und Leim, gemischt mit einem flüchtigen Hauch asiatischer Steppe, ließ sie heute nicht entspannen und vertrieb diese undefinierbare Angst nicht. Mit jeder Faser ihres Körpers ahnte Sanne Bedrohung, wie ein Tier, das instinktiv Gefahr wittert.
    Ludwigs Todestag nahte. Der sechste schon.
    Vom Haken an der Tür nahm sie die Schürze und band sie um. Sie liebte ihre Arbeit, die Ruhe in ihrer Werkstatt, den Blick aus dem großen Fenster über Wiesen und Felder, die Schrunden im Holz der Werkbank, den Geruch der verschiedenen Materialien, das Knistern des Feuers im Ofen.
    Eigentlich ging es ihr doch gut.
    Zwei Geigen-, ein Cello- und zwei Schülerbögen waren bis Mittag zu behaaren. Die alten Bezüge hatte sie schon gestern entfernt. Nun wirkten die Bögen seltsam nackt, wie sie so auf der Werkbank nebeneinanderlagen, ordentlich ausgerichtet, neben jedem ein Auftragszettel ihres ehemaligen Meisters und Lehrherren Frederick Lüchow, sowie Frosch, Beinchen und Ring.
    Die gewaschenen und vorsortierten Haare hingen zu Bündeln gefasst am Regal neben der Tür. Mongolisches, chinesisches und kanadisches Pferdehaar. Vom mongolischen nahm sie für die Schülerbögen mit der Fühlleere die passende Anzahl ab und setzte sich an die Werkbank. Mit kritischem Blick zog sie einige Haare aus dem Bund, die zu dick oder geknickt waren, und legte sie beiseite. Dann griff sie zum Abbindegarn und machte einen festen Knoten um ein Ende des Bündels, das sie anschließend mit Garn umwickelte, bis kein Haar herausrutschen konnte. Über der Spiritusflamme brannte sie die Haarenden ab und griff nach dem Stück Kolophonium.
    Es rutschte ihr aus der Hand und fiel zu Boden.
    Sie sah es fallen und erstarrte. Es fiel wie in Zeitlupe. Dieses Bild wurde von anderen überlagert. Sie rissen Sanne aus Zeit und Raum und katapultierten sie in die Vergangenheit. Wieder einmal.
    Plötzlich stand sie im Kinderzimmer. Die Abenddämmerung kroch zum Fenster herein. Das Deckenlicht warf einen hellen Kreis auf Duplo-Legosteine, die auf dem Boden verstreut waren. Das Bilderbuch vom Maulwurf Grabowski lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Ludwig sprang auf seinem Hochbett wie auf einem Trampolin. Mit hochrotem Kopf schrie er: »Ich will nicht schlafen! Ich will nicht schlafen! Ich will nicht schlafen!« Das Bett wackelte. Der Lattenrost ächzte. Schweißperlen standen auf Ludwigs kleiner Stirn. Seine blonden Locken flogen. Der Pirat auf seinem Schlafanzugshirt grinste. Sanne war fix und fertig und ebenso am Ende ihrer Kräfte angelangt wie am Ende ihrer Geduld. Seit über einer Stunde ging das so.
    Sie bat ihn, sich endlich hinzulegen. Doch er sprang weiter, wie ein Schachtelteufelchen. Und genau so kam er ihr in diesem Augenblick vor. Wie ein kleiner Teufel.
    »Du bist keine Befehlerin. Du bist keine Befehlerin! Du bist keine Befehlerin!«, rief er im Takt seiner Sprünge.
    Eine Mischung aus Erschöpfung und Ärger ließ sie nach Ludwigs Fußknöchel greifen. Er verlor das Gleichgewicht und plumpste in die Kissen.
    »Noch mal!« Begeistert wollte er aufstehen.
    »Morgen. Versprochen. Morgen toben wir. Jetzt musst du schlafen.« Mit einem Ruck zog sie die Decke über ihn. Und dann … flimmerndes Rauschen … Leere … Sekunden verschwanden in einem schwarzen Loch … Plötzlich ein dumpfer Schlag, ein Ächzen und gleichzeitig ein leises Knirschen. Sie fuhr herum. Ihr Verstand weigerte sich sekundenlang, zu akzeptieren, was sie sah.
    Ludwig lag auf dem bunten Flickenteppich. Sein Körper verdreht. Aus einer Wunde im Nacken sickerte ein fadendünnes Rinnsal Blut. Etwas Helles stand daraus hervor. Ein Wirbel. Sannes Beine gaben nach. Plötzlich saß sie auf dem Teppich. Totenstille. Dann ein Wimmern. Mit einem Satz sprang sie auf, beugte sich über das Kind.
    Die Wangen waren noch gerötet, das Haar schweißverklebt. Vor Sekunden noch hatte Ludwig gelebt. Doch nun war aus seinen Augen das Leben gewichen.
    Das Wimmern schwoll an, wurde lauter und lauter, bis ein Schrei emporstieg, sich löste wie glühendes Gestein aus den Tiefen und alles unter sich begrub.
    Herr Kater sprang fauchend vom Schemel, rannte zur Tür und holte Sanne so in die Realität zurück. Der Nachhall ihres Schreis hing noch im Raum. Sie ging zur Tür, schob mit zitternden Fingern den Riegel zurück und ließ den verstörten Kater hinaus.
    Frostkalte Luft
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