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Schuechtern

Schuechtern

Titel: Schuechtern
Autoren: Florian Werner
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Zurückhaltung in privaten Dingen als einen im besten Fall liebenswert-verschrobenen, im schlechteren Fall depperten Anachronismus erscheinen lässt.
    Wer es nicht ins Fernsehen schafft, der kann immerhin auf YouPorn sein Intimleben ins Internet stellen, später kann er dann auf YouTube der Weltöffentlichkeit die ersten Schritte seines dabei gezeugten Babys präsentieren oder die ersten Blockflötenversuche dessen älterer Geschwister. Soziale Netzwerke wie Facebook gestatten in nicht gekanntem Maß Einblick in die persönlichen Fotoalben und Korrespondenzen von Menschen, die man außerhalb solch virtueller Foren nur bedingt als Freunde bezeichnen würde. Und Mikroblogging-Anwendungen wie Twitter suggerieren, dass jedes noch so matte Gedankenwetterleuchten es wert sei, ans Firmament des Internets projiziert und einer möglichst großen Schar von Leserinnen und Lesern zugänglich gemacht zu werden. Die Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen und Wolfgang Krischke sprechen angesichts dieser Entwicklung von einer «Casting-Gesellschaft», in der «eine Kultur permanenter Selbstdarstellung und der […] medienförmigen Inszenierung» herrscht; der amerikanische Autor und Jurist Tim Wu prägte entsprechend den Begriff der exposure culture .
    Es gibt also einerseits angeblich immer mehr Schüchterne − andererseits leben wir in einer Gesellschaft, die der Schüchternheit immer weniger Raum lässt. Dieser scheinbare Widerspruch wirft natürlich eine Reihe von Fragen auf. Könnte es beispielsweise sein, dass unsere Entblößungsgesellschaft die Schüchternheit allererst hervorbringt: Ist Schüchternheit also eine Reaktion auf die Kultur der Selbstdarstellung und der Schnellfeuerkommunikation? Benötigt umgekehrt unsere selbstbewusste, zumindest in weiten Teilen unschüchterne Gesellschaft eine bestimmte Anzahl von Schüchternen als Folie, gegen die sie sich absetzen kann? Was wäre, wenn all die Psycho-Ratgeber und pharmazeutischen Lockermacher Erfolg hätten und es in absehbarer Zeit keine Schüchternen mehr gäbe? Ist eine Welt ohne Schüchternheit überhaupt vorstellbar? Wäre sie wünschenswert? Und, bevor wir uns solch vertrackten Problemstellungen widmen, eine ganz grundlegende Frage: Was ist überhaupt Schüchternheit?

Schüchtern betrachtet       Wenn ich Freunden gegenüber offenbare, dass ich schüchtern sei, ja dass ich sogar an einem Buch zu diesem Thema arbeite, fallen ihre Reaktionen sehr unterschiedlich aus. Manche fühlen sich, was nicht unbedingt schmeichelhaft ist, in ihrer Wahrnehmung meiner Persönlichkeit hundertprozentig bestätigt: Klar, du warst ja schon immer ein bisschen verklemmt, weißt du noch, damals, hohoho, wer sollte ein solches Buch schreiben, wenn nicht du? Andere wiederum fallen nach eigenem Bekunden aus allen Wolken, da sie mich anscheinend in all der Zeit, die wir uns kennen, niemals als schüchternen Menschen wahrgenommen haben: Was, du willst schüchtern sein? Du stehst doch ständig mit deiner komischen Band auf der Bühne oder machst Lesungen − wie passt das denn zusammen? Diese Reaktion ist deutlich schmeichelhafter, obwohl sie natürlich meine Selbstwahrnehmung als Schüchterner in Frage stellt beziehungsweise mich der Koketterie oder Lüge bezichtigt.
    Aus diesem Spektrum unterschiedlicher Reaktionen lassen sich, was die Schüchternheit anbelangt, nun mehrere Schlüsse ziehen. Zum einen ist ‹Schüchternheit› offenbar ein sehr weit gefasster Begriff: Während für den einen erst der therapieerfahrene Sozialphobiker als wahrhaft schüchtern gilt, wertet der andere bereits das Lampenfieber, das vermutlich die Mehrzahl aller Menschen vor einem öffentlichen Vortrag befällt, oder ein zurückhaltendes Betragen beim anschließenden Büffet als Anzeichen der Schüchternheit. Der Textor , das große Synonymwörterbuch der deutschen Sprache, kennt als sinnverwandte Worte für ‹Schüchternheit› die sehr unterschiedlichen Begriffe der ‹Verlegenheit› und der ‹Scham›: Während der erste einen bloß vorübergehenden und vergleichsweise harmlosen Zustand des sozialen Unwohlseins beschreibt, der in der Regel leicht zu überspielen ist, schwingt beim zweiten eine fundamentale, geradezu biblische Dimension von Sünde und Schuld mit: Nachdem Adam und Eva gegen das göttliche Nahrungstabu verstoßen hatten, erkannten sie ihre Nacktheit und schämten sich ihrer. Mit der Erkenntnis von Gut und Böse, ja mit dem Anfang der menschlichen Kultur, so legt diese Bedeutungsdimension
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