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Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer
Autoren: Ulrich Woelk
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Partnerin, fand es selbstverständlich, Do im Geschäft solange zu vertreten, bis ihr Vater sich wieder erholt haben würde. Im Sommer war nicht allzuviel los, und daß Ferienzeit war, erleichterte manches. Oliver brachte die Kinder morgens zu Freunden und holte sie abends wieder ab. Er beruhigte Do in dieser Hinsicht: Er komme gut klar.
    In zwei Tagen würde ihr Vater operiert werden. Oliver hatte sich so sehr an die Depressionsschübe seines Schwiegervaters gewöhnt, daß ihn die Tatsache verwirrte, es könnte eine handfeste organische Ursache dahinterstecken. Er betrachtete bestimmte Dinge in diesem Licht. Zum Beispiel fragte er sich, ob seine Erlebnisse nach der Geburtstagsparty |270| real waren oder nicht. Die Tatsache, daß Helma und Mark ihn vor der Litfaßsäule gefunden hatten, bewies im Grunde nichts. Vielleicht hatte er im Koma halluziniert, vielleicht aber auch nicht. Andererseits war es eher unwahrscheinlich, daß er beinahe vier Stunden ohnmächtig auf dem Gehweg gelegen hatte, ohne von irgend jemandem bemerkt worden zu sein; aber wie ließ sich herausfinden, was in diesen vier Stunden geschehen war? Oliver zermarterte sich deswegen den Kopf, aber er kam nicht weiter.
    Draußen war es heiß, und er machte Inventur. Gelegentlich verkaufte er eine Sonnenbrille. Die Gespräche mit Do (sie telefonierten jeden Tag miteinander) waren sachlich und drehten sich um die Operation. Fürs erste ging alles gut, ihr Vater erwachte aus der Narkose und war ansprechbar, aber für eine differenzierte Beurteilung des Eingriffs waren eine Menge Tests erforderlich. Vielleicht würde man sein Erinnerungsvermögen auf die Probe stellen, überlegte Oliver, und er fragte sich, wie er selbst bei so einem Test abschneiden würde. Ihm gingen nach wie vor verschiedene Dinge durch den Kopf, und er hatte eigenartige Assoziationen. Zum Beispiel dachte er bei einem seiner Sonnenbrillenverkäufe auf einmal an die schwarze Schreibkladde, die er vor Mata Haris Séparée gefunden hatte, als er ihr gefolgt war. Dieses Detail war ihm entfallen, aber jetzt kam es ihm wichtig vor. Er wußte, daß Do solche Kladden verkaufte, aber er kannte nur die farbigen; gab es auch schwarze in ihrem Warensortiment, dann war dies vielleicht ein Beleg dafür, daß er nicht nur geträumt hatte.
    |271| Die Frage war wichtig, weil er gerne gewußt hätte, ob er mit Mata Hari (beziehungsweise ihrer Darstellerin) geschlafen hatte. Sollte er an diesem Abend Sex gehabt haben, so wäre es ein Jammer, sich dessen nicht wirklich sicher sein zu können. Eine Erinnerung, die vielleicht bloß Einbildung war, war wenig wert. Unabhängig davon beschäftigte es ihn aber auch, wie willenlos er sich in Schrödingers Schlafzimmer verhalten hatte. Im Grunde wußte er nicht so genau, wie standhaft er möglicherweise war oder nicht, wenn es erotisch konkret wurde. Noch nie hatte es eine Frau, für die er ansonsten nichts empfand, darauf angelegt, ihn zu verführen. Vielleicht waren seine sexuellen Erfahrungen ja nicht reichhaltig genug, sagte er sich. Am Wochenende übernachteten Jenny und Jonas bei Freunden, und er dachte darüber nach, zu einer Prostituierten zu gehen. Er war noch nie bei einer gewesen. Er ließ es. Es waren zwei sonderbare Wochen, die er durchlebte.
    Am zweiten Freitag nach der Party telefonierte er morgens mit Do. Sie sagte, sie werde nachmittags mit der Vier-Uhr-Maschine kommen. Ihr Vater war stabil, die Chirurgen waren zufrieden. Do traute Ärzten im allgemeinen nicht viel zu, aber ihr war klar, daß sie nicht ewig dort bleiben konnte. Die Halluzinationen ihres Vaters waren also chirurgisch entfernt worden. Oliver fragte sich, ob man auch Erinnerungen chirurgisch entfernen konnte? Und ob er das wollen würde? Zumindest bräuchte er sich dann nicht mehr mit der Frage nach ihrem Realitätsgehalt herumzuplagen. Er zeichnete in diesen Tagen viel. Er füllte einen Block mit flüchtigen Skizzen, auf denen Salome, Tullia d’Aragona und Mata Hari zu sehen waren, so wie er |272| sich an sie erinnerte. Oder nicht ganz: In einem Detail ging er einen Schritt über seine Erinnerung hinaus. Er erlaubte es sich, Salome von Skizze zu Skizze ein wenig mehr zu entschleiern. Um zehn kam Mark ins Geschäft. Oliver bot ihm einen Kaffee an.
    »Ich könnte mich wirklich in den Hintern treten!«, platzte es aus Mark heraus. »Weißt du, daß dieser Schrödinger im Frühjahr bei mir war, um Aktien zu kaufen? Ich hatte allerdings den Eindruck, daß er nicht das geringste vom
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