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Schön scheußlich

Schön scheußlich

Titel: Schön scheußlich
Autoren: Natalie Angier
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Bewusstsein, als ich eine Illustrierte durchblätterte und über eine Reklame stolperte - vermutlich von einem Reisebüro, das die Wunder Roms anpreisen wollte - , die einige briefmarkengroße Abbildungen der Gemälde von Raffael, Leonardo da Vinci und Michelangelo enthielt. So klein sie auch waren, diese Abbildungen dominierten in ihrer Großartigkeit die Seite, ja die ganze Illustrierte in ihrer dumpfen, zweidimensionalen Alltäglichkeit. Sie waren nicht von derselben Art wie die Grafiken und Texte um sie herum. Dasselbe gilt für eine Zeile von Shakespeare, Rilke oder Whitman: Die Ausgewogenheit der Wörter, die Sprachmelodie und Komposition - nichts von alledem hat etwas mit unserer Umgangssprache zu tun. Ihr Genie hob diese Künstler weit über alles Menschliche und Tierische hinaus, über Anfang, Mitte und Ende - sie haben sich von den Gesetzen und Grenzen der Natur losgelöst. Und so widme ich zwei Kapitel dem Thema Kunst und Genie. Im einen Fall geht es darum, was die Wissenschaft über die Neurobiologie wahrer Größe zu sagen hat, im anderen darum, wie sich der Besitz eines sterblichen Körpers mit all seinen weltlichen Unpässlichkeiten auf die Arbeit eines Künstlers auswirkt. Damit das Thema Kreativität nicht auf die Künste beschränkt bleibt, habe ich drei Kapitel über besonders kreative Wissenschaftler hinzugefügt, über Forscher, die sich nicht darauf beschränkten, die Welt zu ergründen, wie sie ist, sondern sie durch die Macht der Synthese von Intelligenz und Fantasie neuerfunden haben.
    Im letzten Abschnitt kehre ich zu einem Thema zurück, das keine Artengrenzen kennt, zu jenem Mantel, der weit genug ist, um uns alle zu umhüllen: zum Tod. Für diesen Aspekt habe ich einen molekularen, einen evolutionaren und letztlich einen persönlichen Ansatz gewählt. Von meinem Gefühl her hasse und fürchte ich den Gedanken an den Tod, doch vom Verstand her und aus biologischer Sicht erkenne ich seine Rechtmäßigkeit, seine Macht und Geradlinigkeit. Das Leben mag sich verlängern lassen, aber vom Tod loslösen lässt es sich nie. Ja, wenn Sie die Gene betrachten, die den Tod einer Zelle dirigieren - und der Zell tod ist der petit mort, aus dem unser großer körperlicher Tod gemacht ist-, so sind dies dieselben Gene, die sich durch winzige Änderungen zu Mittlern der Unsterblichkeit wandeln lassen. Aber genau da liegt der Haken: Eine unsterbliche Zelle ist eine Krebszelle. Es gibt kein Entkommen, und wenn alles Tierische über eine Art unterschwelliger Schönheit verfügt, dann ist dies die unangreifbare Unparteilichkeit des Todes.
    Ein letzter Punkt. Fast alle der folgenden Kapitel sind ursprünglich in der New York Times erschienen (eine Ausnahme bildet »Nur ein Körnchen Sand«). Für die vorliegende Sammlung wurden sie jedoch ausführlich überarbeitet und mit einer persönlichen Note versehen. Das heißt nicht, dass ich das Buch zu Geschichten umgearbeitet habe, in denen ich selbst die Hauptrolle spiele cl la »Der Mistkäfer und ich«, oder dass ich mich in übermäßiger Weise irgendwelcher Personalpronomina bediene - es sei denn, ich habe es hautnah mit einem Ungeheuer zu tun und möchte Sie wissen lassen, wie es sich genau anfühlt, einer wütenden meterlangen Klapperschlange ins Gesicht zu blicken, während man ihr den rasselnden Schwanz streichelt. Auch stehe ich nicht hinter allen Theorien, die ich hier vorstelle. Einige von ihnen sind selbst bei großzügigster Untertreibung nur höchst spekulativ zu nennen. Aber die in ihnen enthaltenen Ideen reflektieren meine Empfindungen und mein Denken über die Natur. Und wenn Sie manchem nur lange genug nachsinnen, um verächtlich die Nase zu rümpfen, so habe ich Sie doch immerhin unterhalten.

I.
 
 
Lieben
     

1.
Partner fürs Leben?
     
     
    Ach ja, die Liebe. Gibt es einen lieblicheren Anblick als ein Stockentenpärchen, das anmutig Seite an Seite auf einem Teich dahingleitet, Männchen und Weibchen allem Anschein nach unzertrennlich? Oder, noch schöner, ein Paar Trompeterschwäne, legendäres Symbol ewiger Liebe, beide den elfenbeinfarbenen Hals zur Hälfte eines Herzens gekrümmt, zwei Seelen im Einklang, ein Leben lang einander treu ergeben?
    Ein Leben lang treu - wenn man von ein bisschen Ehebruch, Hörneraufsetzen und gelegentlicher gemeinschaftlicher Vergewaltigung einmal absieht.
    Es ist ein Jammer für die Grußkartenindustrie, aber es wird immer offensichtlicher, dass es so etwas wie Monogamie im Tierreich eigentlich gar nicht
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